Nachruf:Der Vorkoster

Wolfram Siebeck

War genau genommen kein Koch, sondern ausgebildeter Schildermaler und Grafiker: Wolfram Siebeck

(Foto: dpa)

Wolfram Siebeck brachte Deutschland das Genießen bei und spuckte seinen Landsleuten zugleich mit Lust in die Suppe. Nun ist der große Gastronomiekritiker und Publizist gestorben.

Nachruf von Claudia Tieschky

Es war vor ein paar Jahren in einem feinen Münchner Hotel, der Kochwettbewerb der Zeit machte dort Station. Ein Menü für Wolfram Siebeck und seine Gäste sollten die Kandidaten zubereiten. Siebeck, der Mentor hinter dem Wettbewerb, hatte gerade ein Buch über Innereien veröffentlicht. Mit ganz vielen ekligen Bildern drin, das war ihm wichtig. Die Koch-Eleven reichten folgsam Rezepte mit Kutteln, Nieren und Herz ein, und die Gäste an den edel gedeckten Tischen im Saal schwärmten brav und schauderten heimlich.

Nur Siebeck, elegant angezogen wie immer, den Hemingway-Bart 1A in Form, machte ein angeekeltes Gesicht und erklärte halblaut: "Die Niere müffelt." Von da kam er, warum auch immer, auf Kreuzfahrtschiffe zu sprechen. Siebeck, muss man wissen, hasste Kreuzschifffahrten, Kreuzfahrtschiffe, Kreuzschifffahrtspassagiere und vor allem Kreuzschifffahrtsessen. Der Fußboden des Festsaals begann zu vibrieren wie von einer Waschmaschinenschleuder im Keller oder wie in einem Maschinenraum. Siebeck wirkte untröstlich. Man fürchtete, dass er gleich eine veritable Depression bekäme.

Wolfram Siebeck konnte unvergleichlich unter den Dingen leiden und machte daraus federleichte Texte. Er zeichnete und schrieb und forderte mit all seinem Groll und all seiner Zartheit das Recht des Menschen auf Glück in der Welt. Was die Menschen betrifft, war er der größte Skeptiker, aber er verteidigte die Idee, dass ein sensationeller Geschmack auf der Zunge oder Zeichnungen von Saul Steinberg oder offene britische Sportwagen jeder Form von Entsagung oder sonstigem Banausentum vorzuziehen seien.

Siebeck wurde zum Erzieher einer Gesellschaft

So wurde er ganz ungeplant zum Erzieher der Deutschen - ausgerechnet er, der sich so schwer tat, Teil einer Gemeinschaft zu sein. Das Kollektiv war ihm seit der Nazi-Zeit ein Graus. Siebeck wurde zum Erzieher einer Gesellschaft, die das Recht auf individuelles Glück aus Liebe zu Führer und Vaterland in den Wind geschossen und deshalb bald nichts mehr zu fressen hatte. Woher sollten die Leute auch wissen, dass das Leben ganz anders als klebrig schmecken konnte, nämlich frei, großartig - undeutsch.

Siebeck, geboren 1928 in Duisburg, aufgewachsen in Essen, wusste das, woher auch immer. Nach dem Krieg muss es mitten im Ruhrgebiet ein Deutschland gegeben haben, das nicht muffig war. Die moderne Kunst kam ins Land zurück, in Oberhausen etablierten sich die Kurzfilmtage. Als junger Mann trieb sich Wolfram Siebeck - langhaariger als nach alter Ordnung erlaubt - im Umfeld dieser Szene herum. Anders als viele seiner Leser vermuteten, war er kein Koch, sondern Journalist, genau genommen ausgebildeter Schildermaler und Grafiker. Früh begeisterte er sich für Trickfilme und schrieb darüber, die WAZ schickte ihn zu Festivals nach Frankreich und Belgien. Dort traf er Max Ernst, erlebte Performances der jungen Fluxus-Künstlerin Yoko Ono. Es muss eine Zeit der Freiheit gewesen sein.

"Ich wollte", sagte er und meinte nicht nur das Essen, "dass sich dieses Land verändert." Das wollten viele damals. "Die Fresswelle fing ungefähr um 1965 an, und da fing ich an", erklärte er. Siebeck kam zur richtigen Zeit. Seine Kolumnen fertigte er immer sofort nach einem Restaurantbesuch. Das Schreiben fiel ihm leicht - anders als das Zeichnen, wo er mit riesigen Vorbildern im Kopf focht. Willy Fleckhaus bot ihm eine Kolumne über Essen in Twen an. Twen war das erste Zeitgeistmagazin der Bundesrepublik. Von da an schrieb er. Er schrieb für Stern, Zeit-Magazin, den Feinschmecker und daneben noch mehr als vierzig Bücher.

Seine Frau Barbara sagt, dass er schüchtern war, als sie ihn 1969 kennenlernte. Andererseits konnte sie sich nur einen anderen möglichen Beruf für ihn denken: Rennfahrer. Siebeck, ein schüchterner Beschleuniger - das trifft ihn ganz gut.

Sein Vater war ein Nazi

Mit dem Gefühl, von den Nazis um seine Jugend betrogen worden zu sein, hatte Wolfram Siebeck gelernt, unbescheiden zu sein. Sein Vater war ein Nazi, ein "kleiner Nazi", wie der Sohn gern präzisierte "aber er glaubte an den Scheiß". Er selbst war Flakhelfer auf einem Acker bei Bochum und wurde noch im Frühjahr 1945 an die Oder geschickt, wo die Front verlief. Zwischen Küstrin und Frankfurt schoss er im April einen fürchterlichen Tag lang auf Russen, dann war der Krieg aus.

In düsteren Momenten konnte Wolfram Siebeck darüber grübeln, ob die allmählich beginnende neue Liebe der Deutschen zum Essen nicht eine Ausflucht vor der überwältigenden Kriegsschuld war.

Siebecks "Kochschule für Anspruchsvolle", das Buch, seit dem ihm von 1976 an seine Ausnahmestellung nicht mehr zu bestreiten war, präsentierte sich zunächst einfach als Anleitungsbuch für eine Betätigung, die zuvor wie das Kinderkriegen exklusiv in den weiblichen Teil der Welt gehört hatte. Männer waren höchstens Köche von Beruf. Seit Siebeck den Unterricht mit seiner Kochschule aufnahm, fingen auf einmal ganz normale Männer an zu kochen - und zwar so, wie es Siebeck vorschlug. Siebeck brachte es fertig, die teuersten Zutaten vorzuführen und sich gleichzeitig lustig zu machen über das Etepetete von in Champagner gekochtem Fisch und falschem Kaviar, den er als Pausenbrotaufstrich für Kinder vorschlug. Haute cuisine neben Kinderküche - in gewisser Weise schrieb er schon immer die Sorte Lifestyle-Feuilletons, die heute alle wollen: spöttisch und auf einem intellektuellen Niveau, dass es eine Freude war.

Ende der Sechzigerjahre kam es zu Masseneintritten in die SPD, die versprochen hatte, das moderne Deutschland zu schaffen. Siebecks Kochschule erreichte die Kleinstädte gleich danach. Es war eine Zeit, in der das Recht auf Glück mehrheitsfähig wurde, als Rest der politischen Ideen von 1968.

Wolfram Siebeck war eigentlich mit seinen 40 Jahren zu alt für die Revolution von 1968. Zu schüchtern war er im entscheidenden Moment aber doch nicht. Er spannte dem berühmten Fotografen Will McBride die Frau aus. Barbara McBride war so etwas wie das It-Girl der Zeit, seit sie 1960 hochschwanger mit nacktem Bauch auf dem Cover von Twen posierte. Sie wurden ein fabelhaftes Paar. "Kochen habe ich erst gelernt, als ich ihre Kinder bekochen musste", gab er zu. Sagen wir es ruhig: Wolfram Siebecks große Karriere begann erst als Hausmann.

Die Leute werden immer fetter und hässlicher vom Genussdiktat

Später zog das Ehepaar Siebeck in die Ortenau und wohnte in einer Burg, von der aus man fast bis Frankreich sah. Da oben saß er auf seiner Mietburg Mahlberg und hat immer noch das Glück verlangt. Fast mit Wut.

Heute weiß man ja gar nicht, was das Zeug mit dem Essen noch soll. Überall und vor allem im Fernsehen wird gekocht und geschmort, die Leute werden immer fetter und hässlicher vom Genussdiktat der Industrie-Konzerne. Für den sanften Erzieher Siebeck ging es aber natürlich um etwas ganz anderes - um das Gegenteil von Massenware. "In Wahrheit hat mich das Essen interessiert, weil ich von der ersten Minute an Hedonist war", sagte er.

Zu seinem Spätwerk gehört es, dass er sich genötigt sah, in Berlin so Zeug wie Currywurst zu probieren. 2007 aber erschien die größte Überraschung: Der Mann, der stets gegen die Pampe der deutschen Hausfrau angeschrieben hatte, legte das Buch "Die Deutschen und ihre Küche" vor, Kulturgeschichte, Abrechnung und vorsichtige Annäherung in einem - mit Rezepten für Arme Ritter, Schwäbischen Zwiebelkuchen, Rumfordsuppe und Pichelsteiner. Wolfram Siebeck, versöhnt mit seinem Land? Keineswegs, aber doch mit dem deutschen Sauerbraten.

Am Donnerstag ist Wolfram Siebeck, der schüchterne Beschleuniger des Landes und große Feuilletonist, im Alter von 87 Jahren gestorben. Es droht die Rückkehr der Banausen.

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