Süddeutsche Zeitung

Nachbeben in Japan: Sendai:Häuser die schreien

Das japanische Sendai hat gerade erst wieder den Weg zur Normalität eingeschlagen, die Versorgungslage wurde vier Wochen nach dem großen Beben wieder besser. Doch dann trifft das starke Nachbeben den Nerv der brüchigen Stadt: Die Häuser schwingen wie Pendel - dann steht das Leben wieder still.

Christoph Neidhart, Sendai

Das Bett beginnt leicht zu schlingern, die Wand vibriert. Wieder ein Nachbeben, nicht das erste an diesem langen Tag. Der Hotelgast im achten Stock hat gedöst, vielleicht war er auch grade eingeschlafen. Er dreht sich. Das Schlingern wird stärker, das moderne Haus ächzt, stöhnt, immer lauter. Der Tisch beginnt zu tanzen, nun schwingt das Bett. Der Gast dreht das Licht an, er hält sich an der Matraze fest, so wild ist das Schwingen nun. Das Haus bellt, schreit.

Durchs Fenster sieht der Gast das Nachbarhaus, das im im Gegentakt schwingt. Zwei gegenläufige Pendel. Ein schwach beleuchtetes Fenster taucht in seinem Blickfenster auf, verschwindet wieder, kehrt wieder zurück, nun sogar anderthalb Fenster. Der Tisch knallt um. Wie viel hält so ein Haus aus?

Sendai, die Millionenstadt in der Präfektur Miyagi, die sich als Hauptstadt der vom Erdbeben und Tsunami heimgesuchten Tohoku-Region versteht - hier sind die guten Universitäten; auch die Baseball-Mannschaft, mit der sich der Norden der Hauptinsel Honshu identifiziert, ist hier zu Hause -, wurde vom Erdbeben am 11. März sehr stark getroffen. Der Tsunami überflutete den Flughafen der Stadt, er ist immer noch geschlossen. Viele Fabriken in der Industrie-Zone vor der Stadt sind beschädigt, die mächtigen Biertanks einer Großbrrauerei liegen noch immer übereinander, als hätten Kinder ihr Spielzeug nicht aufgeräumt. Und vor der Stadt ist die Sanriku-Küste mit den vielen völlig zerstörten Fischerstädtchen. Von der Autobahn nach Norden, die wieder offen, aber holprig ist, weil nur notdürftig repariert, sieht man an der Shinkansen-Strecke Arbeiter, die den Schnellzuganschluss von Sendai an Tokio bis Ende April wieder herstellen sollen.

Fast drei Wochen hatten die Menschen in Sendai kein Gas, also auch kein heißes Wasser. Ihre Lebensmittelversorgung war erst unterbrochen, dann gestört, lange gab es kein Benzin. Bis in den letzten Tagen eine Normalität zurückzukehren schien. Zwar sind noch viele Regale in den Läden leer, aber Erdbebenschäden sind im Stadtzentrum kaum mehr zu sehen. Sie sind jetzt Baustellen. Die Fassaden mancher Häuser sind von Netzen überspannt, man fürchtet, Teile könnten runterfallen. Vor anderen ist der Bürgersteig gesperrt.

Doch die Stimmung war an diesem Frühlingstag beinahe gelöst. Das Gröbste schien überstanden. Die Stände auf dem kleinen Gemüsemarkt in den Arkaden hatten reichlich Kunden, mittags im Nudelladen meldete der Fernseher, in Fukusmina-1 würde Stickstoff in den ersten Reaktor gepumpt. Aber niemand hörte mehr hin. Nur von einem Tisch drang immer der japanische Begriff für Kernenergie: Genshiryoku-hatsu.

Die Baseball-Mannschaft von Sendai, die Tohoku Rakuten Golden Eagles, deren Übungsgelände am 11. März ebenfalls zerstört wurde, kehrte an diesem Donnerstag von ihrem Trainingsexil in Osaka nach Sendai zurück. Noch am gleichen Tage besuchten Coach Senichi Hoshino und seine Spieler eine Notunterkunft für Tsunami-Opfer. "Wir kommen viel zu spät zurück", sagte Hoshino zu den Opfern. Journalisten gegenüber bekannte er freilich, aus sportlichen Gründen hatte er Zweifel, so kurz vor dem Eröffnungsspiel in Chiba nach Sendai zu kommen. "Aber das ganze Team soll der Region Mut machen."

Erst abends, als sich das Zentrum rasch leerte, die Schlangen an den dunklen Bushaltestellen länger und länger wurden und die Restaurants leer blieben, wirkte die Stadt bedrückter. Aber immer noch nicht so bedrückt wie das von den Erdbeben weitgehend verschonte Tokio an manchen Tagen der letzten Wochen. Oder nicht mehr so bedrückt, weil sich in den letzten Tagen so vieles verbessert hat.

Die Nachttischlampe flackert, dann geht sie aus. Auch das Haus gegenüber ist nun dunkel. Eine kleine Notleuchte springt an. Nach einer scheinbaren Ewigkeit, in Wirklichkeit wohl etwa drei Minuten, scheint dem Gast, die Erde sei ruhig geworden, das Haus schwingt nur noch nach. Minutenlang. Ein anderer Gast ruft im Flur: "Das war mindestens Stärke 6." "Nein, das war mehr", antwortet ein anderer. Er sollte recht behalten. Das Beben, dessen Epizentrum unweit vor Sendai im Meer lag, hatte eine Stärke von 7,4. Eine Tsunami-Warnung ergeht.

Die Hotellautsprecheranlage des Hotels fordert alle Gäste auf, über die Notausgänge und die Feuertreppe in die Lobby zu kommen. Eine Stimme im Flur fragt: "Muss man?" Einige Gäste kehren in ihre Zimmer zurück. Die Lautsprecherdurchsage erklingt erneut, noch freundlich, aber im Ton schärfer.

Der Gast stürzt sich in seine Jeans, zieht einen Pullover über, greift nach der Taschenlampe, die in Japan an jedem Hotelnachttisch hängt, schnappt sich das Mobiltelefon. Wo ist seine Brille? Auf dem Nachttisch ist sie nicht mehr; er tastet den Boden ab, findet sie schließlich unterm Bett. Er folgt den grün leuchtenden Schildern zur Nottreppe. Männer in Bademänteln, Männer in Trainingsanzügen, einer im Anzug, viele in Arbeitskleidern, manche mit Bauhelm, steigen die Stahltreppe hinunter. Nur Männer. Die meisten sind für Bergungen oder Reperaturen im Tsunami-Gebiet in Sendai.

Ein Kamera-Team von TV Tokio fährt täglich von Sendai an die zerstörte Küste, um zu berichten. Einige Männer auf der Treppe haben eine Taschenlampe, fast alle haben ein Mobiltelefon in der Hand. Telefonieren kann man micht mehr, aber texten geht. Die Stadt ist stockduster. Die Lobby ist bereits voll. Ein Radio plärrt, es meldet das Erdbeben, die Autobahn sei geschlossen. Jemand fragt: Was ist mit den kaputten Kernkraftwerken? Fast alle rauchen, es stinkt.

Der Gast geht nach draußen, aber dort ist es kalt. Mit flackernden Taschenlampen gehen Leute zu Fuß nach Hause, einige Radfahrer, die Lichter der Autos sind gespenstisch in der dunklen Stadt. Und immer wieder heulen Feuerwehr-Sirenen auf. Der Kleinbus einer Firma, die im Tsunami-Gebiet im Einsatz ist, fährt vor, die Türen öffnen sich. Einige Angestellte steigen ein und schließen ihre Laptops an. Die AKW seien stabil, ruft jemand. Der Ingenieur Junichi aus Tokio erzählt, am Samstag seien es vier Wochen, seit er hier im Einsatz sei. Seine Firma repariert Industrieanlagen, die der Tsunami zerstört hat. Zwei Wochen werde er sicher noch bleiben müssen. Es habe viele Nachbeben gegeben. "Aber das ist das erste Mal, das sie uns evakuieren."

Das Radio meldet, Tepco sage, in Fukushima-1 würden keine auffälligen Werte gemessen. Aber das abgeschaltete Kernkraftwerk Onagawa nördlich von Sendai sei ohne Strom. Auch in der Wiederaufbereitungsanlage Rokkasho ganz im Norden sei die normale Kühlung ausgefallen.

Nach einer Stunde bringen die selbst jetzt noch lächelnden Rezeptionistinnen Wasserflaschen. Die Männer stehen herum, jene in den Bademänteln frösteln, manche hocken am Boden, einige gehen ziellos durch die Lobby. Viele tippen nervös auf ihren Mobiltelefonen.

Um ein Uhr früh - trotz Pullover und Jacke fröstelt inzwischen auch der Gast aus dem achten Stock - ruft jemand von der Rezeption, in etwa 20 Minuten könne man aufs Zimmer zurück. Gegen halb zwei stellt sich eine Rezeptionistin an die Diensttreppe und ruft: "Der zwölfte Stock, bitte." Die Gäste aus dem Zwölften stellen sich in eine Reihe und folgen ihr. Dann der elfte Stock, der zehnte, und so weiter. Das Zimmer ist dunkel, die Notleuchte geht nicht mehr.

Jedes Mal, wenn der Gast aus seinem wilden Schlaf erwacht, prüft er, ob der Strom wieder da ist. Wie kann die Stadt Sendai, die sich als Geburtsstätte der Glasfaser-Elektronik versteht, ohne Strom sein? Erst um sieben Uhr früh springt die Nachttischlange wieder an. Bald gibt es auch wieder heißes Wasser. Vor dem Hotel braust ein Löschzug der Feuerwehr vorbei. Die Lifte gehen nicht.

An der Rezeption sagt man dem Gast, es tue ihnen leid, die Hotel-Garage, ein Turm, in dem die Autos von einem Liftsystem versorgt werden, sei defekt. Das Auto, mit dem er an die Küste fahren sollte, sei frühestens mittags zugänglich. Der Bahnhof Sendai ist mit Polizeibändern abgesperrt, auf einem Mäuerchen sitzen Leute, die offensichtlich die Nacht dort verbracht haben. Durchs Fenster eines Kosmetikladens sieht der Gast Dutzende Flaschen teurer Parfums auf dem Boden liegen, einige zerschellt. Die U-Bahn verkehrt nicht, die Vorortszüge auch nicht. Wenige Minuten vor zwölf ruft die Rezeption an, das Liftsystem der Garage würde provisorisch reaktiviert, man könne das Auto holen. "Aber sie müssen in 15 Minuten da sein."

Die meisten Läden bleiben an diesem Freitag geschlossen, der Bahnhof auch. Bis gegen Abend verkehren auch keine Vorortzüge: Sendai ist in einen Zustand zurückgefallen, den es am Donnerstag noch überwunden zu haben glaubte.

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