Süddeutsche Zeitung

Nach Taifun "Haiyan":Hoffen auf morgen

Stundenlang warten Menschen auf Wasser, Benzin oder Medikamente. Nach Wirbelsturm "Haiyan" leiden viele Philippiner an den Folgen der Naturkatastrophe. Unterwegs im Katastrophengebiet.

Von Arne Perras, Tacloban

Noel Gorre sitzt auf der Straße, rund herum türmen sich die Trümmer. Und er fragt sich, wie er nun alles auf die Reihe bekommen soll. Ein kaputtes Haus muss er wieder aufbauen, Frau und Kinder versorgen, Freunden und Nachbarn helfen. Tausende sind gestorben in dieser Stadt, als der Taifun kam und eine riesige Flutwelle aufpeitschte.

Aber Noel Gorre hat auch noch einen Job. Er ist Beamter der Stadtverwaltung. Muss er da nicht wieder zur Arbeit, damit seine Behörde in Gang kommt? Er ist für Beschaffungen zuständig, seine Kontakte könnten nützlich sein, um die Stadt wieder aufzurichten. Aber das Büro existiert nicht mehr. "Zuerst muss ich mich um meine Familie kümmern", sagt er, "das ist keine Frage."

Andere haben keine Wahl. Eugene Bation ist Polizist und schützt die City Hall in Ormoc, auf der anderen Seite der zerstörten Insel Leyte. "Es war ein Wunder, dass wir alle überlebt haben", sagt er. Das Haus ist über ihnen eingestürzt, aber sie kamen noch rechtzeitig ins Freie. Jetzt aber kämpfen Frau und Kinder alleine, um zu überleben. Sie brauchen ein Dach über dem Kopf. Es regnet, und sie dürfen jetzt nicht krank werden. Polizist Bation aber schiebt Dienst mit seinem Schnellfeuergewehr. Sicherheit hat Priorität, der Staat will Plünderungen verhindern. "Aber", sagt Bation, "ich weiß nicht, wie wir das zu Hause schaffen sollen, wenn ich nicht helfen kann."

Wie sollen Behörden arbeiten, wenn ihre Mitarbeiter um das Leben ihrer Familien kämpfen? Auf allen Ebenen sind Netzwerke des Staates zerrissen, darin liegt eines der beiden großen Hindernisse beim Versuch, den Menschen zu helfen. Die andere Schwierigkeit ergibt sich aus der Geografie der Philippinen. Wer große Mengen Essen, Zelte, Tanks und Baumaterial herschaffen will, kann das nur per Flugzeug oder Schiff. Deshalb haben die Amerikaner, enge strategische Verbündete der Philippinen, sogar einen Flugzeugträger geschickt, um die Not schneller zu lindern. Nur wenige Flugplätze sind nutzbar, es mangelt an Transportmaschinen und Helikoptern, und auch die Kapazitäten der Schiffe und Häfen reichen nicht aus. Das ist das Nadelöhr, das alle Helfer bremst.

Auch Marieta Lupig Alcid hat das am Freitag erlebt. Sie leitet den Einsatz der lokalen Organisation Accord, die zusammen mit Care eine erste große Lieferung nach Ormoc bringen will. Die ist für 2500 Menschen in den umliegenden Gemeinden bestimmt, aber das Schiff konnte den Hafen bislang nicht erreichen, obwohl alle ihr Bestes geben. "Jetzt setzen wir auf Sonntag", sagt Marita Lupig Alcid, eine sehr erfahrene Nothelferin. Seit mehr als 20 Jahren erlebt sie, wie schwierig es nach Stürmen ist, die Hilfe in Gang zu bringen. Niemals aber hat sie so viel Zerstörung gesehen wie auf Leyte. Alle sind hier Opfer, vom Tagelöhner bis zum Bürgermeister.

Ein Zehntel der Bevölkerung ist betroffen

Die philippinische Regierung hat in dieser Woche maßlos übertrieben, als sie erklärte, jeder betroffene Philippiner auf der Insel Leyte bekomme jetzt Hilfe. "Der Staat tut viel, aber am Donnerstag waren wir in den Orten Isabel und Merida. Und dort ist noch keine Hilfe angekommen." Das sagt Sandra Bulling, Sprecherin von Care, die in den vergangenen Tagen durch Leyte fuhr. Mit einem Satellitentelefon gibt sie Interviews in Australien, Europa, den USA. "Das ist wichtig, denn wir brauchen für unsere Arbeit Spenden."

Sandra Bulling war eine der ersten, die ihre Eindrücke aus den zerstörten Gebieten weitergeben konnte. Viele andere kommen am Freitag erst an, in der zerstörten City Hall von Ormoc scharen sich die Menschen um einen einzigen Generator, nur der gibt Strom für Telefone und Computer. Helfer aus aller Welt trudeln ein und versuchen, etwas auf die Beine zu stellen. Die Vereinten Nationen haben die Aufgabe, gemeinsam mit der Regierung in Manila die Hilfe zu koordinieren.

Manche, die jetzt in Ormoc ihr Camp aufschlagen, waren zuvor nach dem Erdbeben auf Haiti im Einsatz. Care-Nothelfer David Gazashvili sagt: "Dort war alles viel einfacher, weil vor allem die Hauptstadt und deren Umgebung betroffen war." Auf den Philippinen hat die Katastrophe mehrere Inseln getroffen; die zerstörten Städte und Gemeinden liegen weit verstreut.

Zehn Millionen Menschen sind betroffen, ein Zehntel der Bevölkerung. Und wo es noch Trucks gibt, die nicht von einem Baumriesen erschlagen wurden, da gibt es meist kein Benzin mehr. Selbst in Hafenstädten wie Ormoc kommt die Hilfe schwer in Gang. Die Bewohner verbringen mehrere Stunden täglich in riesigen Warteschlangen. Es gibt eine für Benzin, eine für Wasser, wieder eine andere für Medikamente.

Besonders lang windet sich eine Schlange an diesem späten Nachmittag durch die Bonifacio Road. Es regnet, aber das schreckt die 20-jährige Corazon Bongat nicht ab, sie braucht dringend Brot für ihre Eltern und die Geschwister. Fünfzig Meter weiter, unter Neonröhren, schieben vier junge Philippinerinnen Brot über den Tresen, wenn sie sich nicht gerade mit einem Pappkarton Luft zufächeln. Die Hitze in der Backstube ist mörderisch. Hinten kneten die Männer den Teig und schieben ihn ins Rohr. Wer etwas davon ergattern möchte, muss bis zu drei Stunden warten. Denn dies ist die einzige Bäckerei weit und breit, die Strom aus einem Generator erhält.

Kein einziger Strommast, der noch steht

Als Corazon Bongat endlich zwei Beutel Gebäck in ihre Tasche packt, ist es schon dunkel. Sie läuft mit der Taschenlampe durch die dunklen Straßen zurück zu ihrem Haus, das nur noch eine Ruine ist. Um einen Platz zum Schlafen zu finden, muss sie zu einem Nachbarn. Der hat noch ein halbwegs trockenes Zimmer.

Auf den Gehsteigen entzünden die Bewohner jetzt überall Feuer, die meisten kochen Wasser in großen Töpfen ab. Jemand grillt an der Ecke für die Familie ein Hühnchen. Im Flackerlicht tanzen die Schatten der Menschen über die Wände, sie sehen aus wie zitternde Gnome.

So wird es noch lange bleiben in Ormoc und allen anderen Städten, die der Taifun weggefegt hat. Bei der fünftägigen Fahrt durch das Katastrophengebiet war kein einziger Strommast zu finden, der noch steht. Die Masten versperren die Straßen oder müssen aus den Trümmern der Häuser herausgezogen werden. Bis es wieder Strom gibt auf der zerstörten Insel Leyte, werden noch Monate vergehen.

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Quelle:
SZ vom 16.11.2013/ahe
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