Süddeutsche Zeitung

Nach den Übergriffen in Köln:Sind Bürgerwehren eine Alternative zur Polizei?

Viele Menschen meinen, sie müssten nach den Vorfällen der Silvesternacht selbst für Sicherheit auf deutschen Straßen sorgen. Keine gute Idee.

Von Markus C. Schulte von Drach

Die sexuellen Übergriffe auf Frauen in der Silvesternacht in Köln und anderen deutschen Städten haben bei vielen Menschen das Gefühl ausgelöst, es sei notwendig, den Schutz vor solchen Verbrechen in die eigene Hand zu nehmen. Tausende besorgte Bürger sind inzwischen Mitglieder in etlichen Facebook-Gruppen, die die Idee ausdrücklich begrüßen, nachts auf den Straßen zu patrouillieren.

Aufsehen erregte insbesondere die Gruppe "Düsseldorf passt auf", die am vergangenen Wochenende mit etwa 50 Personen - aufgeteilt in kleine Gruppen - in der Düsseldorfer Altstadt unterwegs war. Ihr Auftritt wurde von Polizisten, Medien und Linken begleitet.

Das Phänomen ist nicht neu. Schon seit Jahren finden sich immer wieder Gruppen - auch auf Facebook - unter der Bezeichnung "Bürgerwehr" zusammen und schmieden entsprechende Pläne. Und immer wieder machen sich auch manche selbst ernannten Wächter der öffentlichen Ordnung tatsächlich zu Fuß oder mit dem Auto auf zur "Streife".

Manchmal sind es Bürger, die nach Einbrüchen in Häuser in ihren Ortschaften weitere Straftaten verhindern wollen. Immer wieder aber spielen sich Rechtsextreme als angebliche Beschützer auf. Vor allem seit Flüchtlinge in größerer Zahl nach Deutschland kommen, werden sie von den Rechten als angebliche Bedrohung diffamiert.

Rund um Flüchtlingsunterkünfte veranstalten sie immer wieder Patrouillen und "Nachtwachen" und - etwa in der Stadt Freital - offenbar auch Angriffe mit Buttersäure und sogar Sprengstoff. Selbst Tipps, welche Waffen man legalerweise mitführen könnte - etwa Messer mit einer Klingenlänge von weniger als zwölf Zentimetern - gibt es im Internet.

Auch der Gruppe "Düsseldorf passt auf", die Tofigh Hamid ins Leben gerufen hatte, hatten sich Rechtsradikale angeschlossen. Dem geborenen Iraner, selbst im Kindesalter als Asylbewerber nach Deutschland gekommen, ging es zwar ausdrücklich nicht um Politik. Nach kritischen Reaktionen von Polizei und Presse hat Hamid weitere "Rundläufe" aber erst einmal abgesagt. Andere "Bürgerwehren" haben sich gerade erst gegründet. Wie es mit ihnen weitergeht, ist noch offen.

Festhalten darf jeder

Prinzipiell ist es völlig legal, wenn Menschen sich dazu verabreden, nachts durch bestimmte Straßen zu "spazieren" mit dem Ziel, mittels ihrer Präsenz die Sicherheit dort zu erhöhen. Die Frage ist eben, wie sehr sie tatsächlich als Bürgerwehr mit der Betonung auf "Wehr" auftreten. Bürgerwehren waren ursprünglich bewaffnete Gruppen städtischer Bürger im 19. Jahrhundert, lokale Milizen zur Verteidigung von Städten, aus denen vielerorts die heutigen Schützenvereine hervorgegangen sind. Heute werden gemeinhin Gruppen als Bürgerwehr bezeichnet, die sich lokal zusammenschließen, um Bürger irgendwie vor Verbrechen zu schützen.

Dabei dürfen ihre Mitglieder, wenn sie eine Straftat beobachten, aber nur genau das tun, das jeder immer tun darf: Die Polizei benachrichtigen oder dem Paragrafen 127 Strafprozessordnung folgen. "Jedermann", so heißt es dort, ist "befugt", eine Person auch ohne richterliche Anordnung "vorläufig festzunehmen", die "auf frischer Tat betroffen oder verfolgt" wird - jedenfalls wenn er "der Flucht verdächtig ist oder seine Identität nicht sofort festgestellt werden kann".

Das bedeutet, wenn nur der Verdacht besteht, jemand könne ein Verbrechen vorhaben, darf nicht eingegriffen werden. Auch die Identität von Personen dürfen Zivilisten genauso wenig überprüfen, wie sie zu durchsuchen - das ist Sache der Polizei.

Eine Wirkung, auf die manche Gründer von Bürgerwehren hoffen, ist es allerdings gar nicht, Straftäter zu ergreifen, sondern durch Präsenz Straftaten wie Einbrüche oder Übergriffe wie an Silvester von vornherein zu verhindern. Schon die Tatsache, dass an heiklen Orten mögliche Straftäter mit Augenzeugen rechnen müssen, könnte sie vom Verbrechen abhalten. In Düsseldorf hatte Tafigh Hamid immer wieder betont, die einzige Waffe, die man hätte, wäre das Telefon, um die Polizei zu rufen. Andere Bürgerwehr-Gründer versuchen bewusst, Rechtsextreme draußen zu halten.

Könnten Bürgerwehren, wenn sie nicht wie Honig die Fliegen Rechtsradikale anlocken würden und die Sorge besteht, dass es zu Selbstjustiz kommt, also positive Effekte haben?

Erfahrungen in den USA

Einige Erfahrungen mit Gruppen von Bürgern, die in ihrer Nachbarschaft Verbrechen oder Vandalismus verhindern wollen, gibt es in den USA. Dort werden sie als Nachbarschaftswache (Neighbourhood Watch) bezeichnet und sind landesweit organisiert als Teil der National Sheriffs' Association. Die Gruppen bilden sich in Absprache mit lokalen Gesetzesvertretern, behalten ihren Ort im Auge und melden verdächtige Vorgänge - Studien zufolge durchaus mit Erfolg. Andere Länder wie Großbritannien und Australien haben ebenfalls das Prinzip Neighbourhood Watch eingeführt.

Ein Problem hat die Organisation in den USA seit 2012. In diesem Jahr tötete George Zimmerman in Florida den Teenager Trayvon Martin. Zimmerman war Mitglied einer Nachbarschaftswache. Statt Martin als Verdächtigen zu melden - wozu er keinen besonderen Grund gehabt hätte - hielt er den jungen Mann selbst an, geriet in Streit mit ihm und erschoss ihn. Seitdem gibt es eine Diskussion darüber, wie Mitglieder der Nachbarschaftswachen geschult werden müssten.

Eine weitere zivile Sicherheitsgruppe sind die Guardian Angels (Schutzengel), die 1979 primär mit dem Ziel gegründet wurden, die U-Bahn in New York City sicherer zu machen. Die Mitglieder, hauptsächlich junge Leute, sind an ihren roten Jacken und Baretts zu erkennen und sollen vor allem Gewaltverbrechen verhindern oder Täter festhalten. Anfänglich hatte New Yorks Bürgermeister Ed Koch die Organisation abgelehnt. Inzwischen gibt es Filialen in anderen US-Städten und -teils vorübergehend - auch Untergruppen außerhalb der USA. Die "Schutzengel" müssen unbewaffnet patrouillieren - auch in den USA -, absolvieren ein Training in Erster Hilfe und Konfliktlösung und sollen defensive Nahkampftechnik beherrschen. Die Idee von Gruppen uniformierter Jugendlicher als selbst ernannte Überwachungsinstitution ist etwa in Polizeikreisen allerdings weiterhin umstritten.

Als Erfolgsgeschichte gilt die uniformierte Nachbarschaftswache in der namibischen Stadt Swakopmund, die seit 2012 in Zusammenarbeit mit der Polizei die Kriminalitätsrate dort deutlich gesenkt haben soll.

Wer in Deutschland meint, die Arbeit der Polizei übernehmen zu müssen, hat in einigen Bundesländern offiziell die Gelegenheit dazu.

In Bayern und Sachsen gibt es die ehrenamtliche Sicherheitswacht, die Vandalismus und Straßenkriminalität vorbeugen sollen. Bürger, die sich daran beteiligen, werden von den Polizeidienststellen ihres Wohngebietes Gebieten zugeteilt, etwa bestimmten Wohnsiedlungen, Parks oder Asylbewerberheimen. Wie bei Nachbarschaftswachen soll ihre Präsenz Verbrechen verhindern. Im Verdachtsfall müssen sie über Funk die nächste Polizeistreife informieren.

Und nach einem Verbrechen dürfen sie einen Täter wie jeder andere nach Paragraf 127 StPO festhalten. Außerdem sind sie mit Reizgas oder Pfefferspray ausgerüstet. Darüber hinaus dürfen sie "zur Gefahrenabwehr" auch die Personalien feststellen und Platzverweise erteilen. Zu erkennen sind Mitglieder der Sicherheitswacht an Blousons mit entsprechender Aufschrift oder einem Kennschild.

In Hessen existiert ein "Freiwilliger Polizeidienst" mit ähnlichen Befugnissen wie die Sicherheitswacht. Die Mitglieder tragen eine Polizeiuniform mit Baseballkappe statt Schirmmütze. Auch sie sind mit Pfefferspray ausgestattet.

In Brandenburg helfen "Sicherheitspartner" der Polizei durch ihre Präsenz etwa bei der Verhinderung von Einbrüchen. Diese Polizeihelfer werden von Einwohnerversammlungen interessierter Ortschaften vorgeschlagen. Sie haben keine besonderen Befugnisse, sondern sollen nur auf Verdächtiges achten und die Polizei informieren.

Freiwilliger Polizeidienst mit Schusswaffe

Außergewöhnlich ist dagegen der "Freiwillige Polizeidienst" in Baden-Württemberg. Dieses ehrenamtliche Engagement, das schon seit 1963 existiert, versetzt die Freiwilligen in die Stellung eines Polizeibeamten "im Sinne des Polizeigesetzes". Die Mitglieder erhalten eine polizeiliche Grundausbildung, begleiten Polizeibeamte, tragen Polizeiuniform, Handschellen - und sogar eine Dienstpistole. Die Landesregierung hat allerdings die mittelfristige Auflösung dieses Polizeidienstes beschlossen. Mitglieder, die aufhören, werden nicht mehr ersetzt.

Guido Wolf, Spitzenkandidat der CDU für die Landtagswahl 2016, hat aber angekündigt, den Dienst zu reaktivieren. Er sieht in den Freiwilligen mit einer polizeilichen Grundausbildung, die gemeinsam mit Polizeibeamten auf Streife gehen, eine kostengünstige Maßnahme gegen Einbruchdiebstahl.

Bei der Polizei betrachten viele Beamte die Bürgerwehren kritisch, manche stehen jedoch auch den Hilfspolizisten skeptisch gegenüber. Zivilisten, die nachts in Gruppen auf Streife gehen - wer soll erkennen, ob die nicht selbst eine Bedrohung sind? Insbesondere vor dem Hintergrund, dass gerade Rechtsradikale sich offenbar gern daran beteiligen. In Düsseldorf etwa hat die Aktion der Bürgerwehr der Polizei nicht Arbeit abgenommen, sondern zusätzliche gemacht.

Und Polizeihelfer seien "Billiglösungen" für fehlendes Personal bei Polizei und Ordnungsämtern, zitierte die Deutsche Presse-Agentur den Bundesvorsitzenden der Deutschen Polizeigewerkschaft, Rainer Wendt, im vergangenen Jahr.

Um den Bürgerinnen und Bürgern ein Gefühl von Sicherheit zu geben, wäre es demnach wohl notwendig, die Zahl der Polizisten zu erhöhen. Sowohl um die Bürger vor Einbrüchen und Überfällen zu schützen - als auch Flüchtlinge vor Rechtsradikalen.

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