Übergriffe in Köln:Kameras und härtere Gesetze allein werden nicht reichen

Commuters crowd into a train at Saint-Lazare metro station in Paris

Ein Ort häufiger sexualisierter Gewalt gegen Frauen: Gedränge in einer Pariser Metro-Station (Bild von 2010).

(Foto: REUTERS)

Nach den Übergriffen in Köln könnte Deutschland von Erfahrungen in französischen Banlieues lernen. Und sollte vielleicht seine Toleranz gegenüber Kopftuch und Burka hinterfragen.

Gastbeitrag von Cécile Calla

Seit Tagen wundere ich mich über den Ton, die Verblendung und die Instrumentalisierung der traurigen Silvesternacht von Köln. Wie so oft wird der Körper von Frauen und dessen Verletzung für politische Debatten benutzt. Das war auch der Fall in Frankreich, wo das Thema Jugendkriminalität wegen der Präsidentenwahl und des Aufstiegs von Nicolas Sarkozy 2002 in den Vordergrund rückte.

Plötzlich entdeckte das ganze Land die Hölle der tournantes, der kollektiven Vergewaltigungen von Mädchen in den Kellern französischer Vororte. In diesen tristen Hochhaussiedlungen, wo vor allem Zuwanderer und Franzosen aus den ehemaligen Kolonien Nordafrikas wohnen, wo Arbeitslosigkeit, Bildungsferne und fehlende Infrastruktur das Leben prägen, waren und sind junge Frauen immer wieder Opfer von Gruppen junger Männer. Das Martyrium eines dieser Opfer, Samira Belill, die mit 14 Jahren von mehreren jungen Männern in ihrer Cité vergewaltigt wurde, löste 2002 einen Schock aus, ebenso der Tod der 17-jährigen Sohane Benziane, die bei lebendigem Leib verbrannt wurde. Die Täter waren junge Männer mit Migrationshintergrund, Schulabbrecher und bereits vorbestraft, die in einer Parallelwelt lebten.

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Cécile Calla, 38, lebt als freie deutsch-französische Journalistin und Autorin in Berlin. Zuvor war sie Korrespondentin von Le Monde und Chefredakteurin des deutsch-französischen Magazins ParisBerlin.

(Foto: OH)

Sexuelle Übergriffe sind nicht auf die Vororte begrenzt

Solche Exzesse bilden die schlimmste Form der alltäglichen Gewalt, wie sie sich in manchen Banlieues gegen Frauen richtet. Beschimpfung, Grapscherei, Spucken sind üblich. Selbst tagsüber sind manche dieser Orte gefährlich für Frauen. Als Reaktion haben sie sich Strategien angewöhnt, um möglichst nicht aufzufallen: kein Rock, Blick nach unten und natürlich eine "Armlänge" Abstand zu möglichen Aggressoren. Weil viele Frauen ihr Schweigen über diese alltägliche Gewalt brechen wollten, fand 2003 ein Frauenlauf in ganz Frankreich statt; der Verein "Ni putes, ni soumises" (Weder Hure noch unterworfen) wurde von Frauen aus den Vororten gegründet, um Gleichberechtigung und Laizität in diesen Vierteln zu fördern.

Obwohl die Statistik keine Zunahme kollektiver Vergewaltigungen zeigte, wandelte sich das öffentliche Bewusstsein in Sachen sexueller Gewalt und Sicherheit, wovon auch der rechtsextreme Front National profitierte.

Sexuelle Übergriffe sind aber keineswegs nur auf Vororte begrenzt. Sie finden am Arbeitsplatz, in Bussen und Bahnen und mitten in Paris statt. Sie warten auf die Métro und plötzlich streckt Ihnen ein Mann die Zunge raus und sagt Ihnen wie "geil" er Sie findet. Oder im Gedränge des Waggons fasst Ihnen jemand zwischen die Beine. Nahezu jede Französin muss mindestens einmal in ihrem Leben eine solche Demütigung ertragen. Trotzdem dauerte es lange, bis die Politik sich dafür verantwortlich fühlte. Erst vergangenen November startete die Regierung eine Kampagne gegen sexuelle Belästigung.

In Deutschland hätte jemand wie Strauss-Kahn es in der Politik nicht weit gebracht

In Deutschland habe ich ähnliche Belästigungen noch nie erlebt, egal zu welcher Zeit ich unterwegs war. Selbst am Kottbusser Tor, am Görlitzer Park oder am Hermannplatz, die als soziale Brennpunkte in Berlin gelten, wurde ich noch nie bespuckt, beschimpft oder sexuell belästigt. Der Umgang zwischen Männern und Frauen ist hierzulande anders als in Frankreich. Es gibt eine stärkere Trennung zwischen Privatem und Öffentlichem, zwischen Arbeit und Freizeit. Vielleicht auch deswegen behandeln die meisten Männer Frauen nicht als Freiwild.

Natürlich bezweifele ich nicht, dass es Sexualgewalt oder Sexismus in Deutschland gibt. Aber jemand wie der frühere Finanzminister Dominique Strauss-Kahn, dem sowohl Vergewaltigung als auch Beteiligung an einem Callgirl-Ring vorgeworfen wurde (vom Vorwurf der Zuhälterei sprach ihn 2015 ein Gericht frei), hätte es in der deutschen Politik nie so weit gebracht. Rainer Brüderle, der sich Bemerkungen über die Oberweite einer Journalistin erlaubt hatte, wurde öffentlich und medial demontiert.

Vergleiche von Köln mit dem Oktoberfest sind unpassend

Daher verstehe ich die Empörung und Fassungslosigkeit vieler Menschen nach dieser Silvesternacht. Deutsche Städte sind an so etwas nicht gewöhnt. Mein Verständnis hört aber auf, wenn manche Feministinnen die sexuelle Gewalt in Köln als einen Vorfall unter vielen darstellen, oder Vergleiche mit dem Oktoberfest oder dem Karneval ziehen. Was sich in Köln und anderen Städten abspielte, erreichte eine Dimension und Intensität, die ihresgleichen sucht. In ein paar Stunden und auf engsten Raum erleben mehr als 200 Frauen sexuelle Übergriffe. Beim Oktoberfest im vorigen Jahr mit 5,9 Millionen Besuchern hat die Münchner Polizei 26 Anzeigen wegen sexueller Straftaten registriert. Damit sind wir weit weg von "No-go-Areas".

Es ist auch falsch und gefährlich, einzig von deutschen Frauen als Opfern in Köln zu sprechen, die gemäß des entsprechenden Focus-Titels blond, schlank und groß sein sollen. Unter den Opfern gab es bestimmt eine Vielfalt von Frauen, Deutsche mit und ohne Migrationshintergrund, Touristen, Junge, Ältere, vielleicht sogar Flüchtlingsfrauen. Alice Schwarzer irrt auch, wenn sie Köln als "Terror" bezeichnet. Terror - das ist für mich der Anschlag mit 130 Toten in Paris oder die Steinigung von Frauen in Afghanistan.

Deutschland sollte über seine Toleranz gegenüber Burka und Kopftuch nachdenken

Es ist dabei völlig unzureichend, nur auf polizeiliche Fehler, auf Mängel des Strafrechts und der Justiz aufmerksam zu machen. Videokameras und eine Verschärfung des Asylrechts allein werden dieses Problem nicht lösen. Vorausgesetzt, die Ermittlungen bestätigen, dass fast alle Täter Zuwanderer und Asylbewerber waren, ist eine Debatte über die Integration, über Zuwanderungspolitik und über Grundwerte unentbehrlich. Vielleicht muss Deutschland auch nochmals über seine Toleranz gegenüber dem Kopftuch und insbesondere der Burka nachdenken, Symbolen, die das Bild einer unterworfenen Frau verkörpern.

Der schnelle Zugang zum Arbeitsmarkt ist sicher entscheidend für eine geglückte Integration. In den Banlieues ist die Arbeitslosigkeit fast doppelt so hoch wie im Rest des Landes. Die Biografien von jungen Kriminellen kennzeichnen sich durch eine abgebrochene Ausbildung und eine gescheiterte Eingliederung auf dem Arbeitsmarkt.

Die Ankunft von einer Million Flüchtlingen wurde zu Recht mit der Aufgabe der deutschen Vereinigung verglichen. Wenn jetzt die Bundesregierung ihre Flüchtlingspolitik zurückdrehen, die Grenzen dicht machen sollte, würde sie ein fatales Signal an alle populistischen Kräfte in Europa senden. Selbst wenn Angela Merkel dafür kritisiert wird, dass sie sich im September zu wenig mit europäischen Partnern abgestimmt hat, verkörpert sie Europas Ehre in dieser Krise. Seit Köln schauen alle in Europa, noch mehr als sonst, nach Deutschland. Ich hoffe, dass dieses Land, in dem ich seit zwölf Jahren gern lebe, weiter ein freundliches, besonnenes und zuversichtliches Gesicht zeigen wird.

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