Nach dem Tuğçe-Urteil:Angeklagt: die Öffentlichkeit

Funeral Of Tugce Albayrak

Auch im Fall Tuğçe hat der Richter die Urteilsverkündung genutzt, um Medien, Öffentlichkeit und Gesellschaft zu kritisieren.

(Foto: Getty Images)

Der Fall Tuğçe, der Fall Kachelmann und andere: Richter nutzen immer öfter die Urteilsverkündung, um Dampf abzulassen. Ist das angebracht?

Von Heribert Prantl

Richter Jens Aßling ist der Vorsitzende der 10. Großen Strafkammer am Landgericht Darmstadt, die soeben den Fall Tuğçe verhandelt hat. Richter Matthias Burghardt war der Vorsitzende der 4. Großen Strafkammer des Landgerichts Hof, die im November 2014 den sogenannten Babyleichen-Fall entschieden hat. Richter Rupert Heindl war der Vorsitzende der 5. Großen Strafkammer des Landgerichts München II, die im März 2014 Uli Hoeneß zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt hat. Richter Frank Rosenow war der Vorsitzende der 2. Großen Strafkammer des Landgerichts Hannover, die im Februar 2014 den Freispruch für den früheren Bundespräsidenten Christian Wulff verkündete. Richter Michael Seidling war Vorsitzender der 5. Großen Strafkammer am Landgericht Mannheim, die 2011 nach neun Monaten Verhandlung den Wettermoderator Jörg Kachelmann vom Vorwurf der Vergewaltigung freisprach.

Was haben Aßling, Burghardt, Heindl, Rosenow und Seidling gemeinsam? Sie sind Vorsitzende Richter, haben also jeweils, so formuliert und verlangt das der Bundesgerichtshof, "richtungsweisenden Einfluss" auf die Rechtsprechung ihrer Kammer. In dieser Funktion haben sie jeweils die Verhandlung in jeweils spektakulären Verfahren geführt. Und sie alle haben, das war das Spektakuläre zum Abschluss ihrer Prozesse, nicht einfach nur das Urteil verkündet, sondern dabei die Medien und andere Prozessbegleiter und -beobachter schwer gerüffelt.

Richter kritisieren Medien und Gesellschaft. Ist das geboten?

Die Richter haben also nicht einfach nur "Im Namen des Volkes" die Urteilsformel verlesen und sodann die Gründe für dieses Urteil erläutert; sie haben nicht nur den Schuld- oder den Freispruch vorgetragen und die Beweise in ihrer Zulänglichkeit oder Unzulänglichkeit gewürdigt, sondern sehr viel weiter ausgeholt - weiter als das Gesetz und die Paragrafen 260 ff Strafprozessordnung es eigentlich vorsehen. Sie haben nicht nur über den Angeklagten, sondern auch über das öffentliche Klima geurteilt, in dem der Prozess stattgefunden hat.

Die Urteilsverkünder könnten ihr Unbehagen, ihren Groll und ihren Zorn auch hinunterschlucken. Aber der Ärger über Medienkampagnen und verzerrte Darstellungen im Speziellen und über gesellschaftliche Missstände im Allgemeinen ist immer öfter stärker als die richterliche Zurückhaltung. Die Urteilsverkünder beklagen daher am Ende des Prozesses eine mediale Vorverurteilung des Angeklagten und auch, wie im Fall Tuğçe, eine Vor-Verherrlichung des Opfers; sie beschweren sich darüber, wie solche Kampagnen den Prozess verändern und verbiegen; sie haben offensichtlich das Gefühl, dass das im Übermaß geschieht.

Die Richter nutzen daher die Urteilsverkündung, um Medien, Öffentlichkeit und Gesellschaft zu kritisieren. Das war in all den genannten Fällen gar nicht unsympathisch, das war verständlich. War es geboten? Hätten die Richter in einem früheren Stadium des Verfahrens, während der Beweisaufnahme also, so geredet - es hätte ihnen das womöglich eine Ablehnung "wegen Befangenheit" eingetragen. Für Befangenheitsanträge nach der Urteilsverkündung ist es zu spät.

Strafrichter sind, glücklicherweise, auch nur Menschen und keine Automaten; sie nutzen die Gunst der Stunde, sie genießen den hohen Moment, die atemlose Stille, die große Bühne. Der Strafprozess ist ein Paragrafentheater, ein Drama mit festen Regeln, oft eine Tragödie. Die Urteilsverkündung ist ihr fast magischer Höhepunkt: Alle Personen im Saal haben sich beim Einzug des Gerichts von den Plätzen erhoben; und mit der Formel "Im Namen des Volkes ergeht folgendes Urteil" beginnt die Katharsis, die nun im Schuld- oder Freispruch kulminiert.

Moment von Schicksalhaftigkeit

Es ist dies ein Moment von erregender Schicksalhaftigkeit für den Angeklagten; diese Schicksalhaftigkeit ergreift den Raum, den Gerichtssaal, die Öffentlichkeit. Die Spannung löst sich nicht gleich auf, wenn Gericht, Prozessbeteiligte und Zuschauer wieder auf ihrem Stuhl Platz nehmen - sondern verwandelt sich in gespannte Aufmerksamkeit; der Richter beginnt mit der Begründung des Urteils. Das ist etwas anderes als die Weihnachtsansprache des Bundespräsidenten oder die Regierungserklärung der Bundeskanzlerin. Ein Mehr an Aufmerksamkeit gibt es kaum.

Richter Heindl attackierte in dieser Situation am Ende des Hoeneß-Prozesses "Teile der Berichterstattung" und den "Medienrummel". Richter Seidling im Kachelmann-Verfahren klagte über Meinungsforen, Blogs und Kommentare im Internet; er beschwerte sich darüber, dass dort "die Persönlichkeitsrechte des Angeklagten, der Nebenklägerin, aber auch des Gerichts und der Verfahrensbeteiligten immer wieder mit Füßen getreten" worden seien. "Angeblich Sachkundige" hätten "auf der Grundlage unvollständiger und fehlerhafter Medienberichte" per Ferndiagnose ihre persönliche Meinung zum Besten gegeben und dabei "häufig nur Klischees bedient". Da hatte der Richter nicht Unrecht.

In einem Fall in Hof legte der Richter eine Schweigeminute ein

Man muss aber fragen, ob nicht auch die Justiz zu alledem beiträgt, wenn sie sich anstecken lässt vom öffentlichen Bohai - nicht zuletzt im Fall Kachelmann: Ein Strafprozess dient nicht der Befriedigung der öffentlichen Geilheit, auch dann nicht, wenn es um Sexualdelikte geht; er soll die Bestandskraft einer fundamentalen Norm für die Zukunft sichern. Wenn dabei, wie im Fall Kachelmann, die Sicherungen der Justiz versagen, muss diese sich nicht wundern, wenn die Medienöffentlichkeit vollends durchbrennt. Im Strafverfahren gegen Kachelmann wäre es etwa das Mindeste gewesen, die Öffentlichkeit bei allen intimen Befragungen auszuschließen.

Fuenf Monate nach dem toedlichen Angriff auf Tugce Albayrak vor einem Offenbacher Schnellrestaurant

Im Fall Tuğçe (im Bild der zuständige Richter Jens Aßling) gab es auch eine öffentliche Vor-Verherrlichung des Opfers.

(Foto: imago/epd)

In immer mehr Urteilsbegründungen werden die Hysterien der Öffentlichkeit beklagt, werden die befremdlichen Abstimmungs-Rituale über Schuld oder Unschuld des Angeklagten angeprangert, wie sie im Internet stattfinden. Manchmal, in einem Fall in Hof, erfindet oder übernimmt auch der Richter prozessfremde Rituale - er legte eine Schweigeminute ein für die Opfer. In der Prozessordnung ist das nicht vorgesehen; aber da steht ja auch nichts darüber, wie das Gericht reagieren soll, wenn die Realität medial verändert wird, wenn also Journalisten Zeugen befragen, wenn sie dann deren Aussagen veröffentlichen, wenn sie so den Prozessverlauf beeinflussen.

Im Tuğçe-Verfahren hat sich die Bild-Zeitung eine Videoaufnahme von Tatort und Tat verschafft und es exzessiv publiziert. Dieses Video hat die Erinnerung vieler Zeugen komplett überlagert. Die schärfste Reaktion auf solche Kampagnen wäre es, wenn der Richter das Strafverfahren einstellen würde - mit der Begründung, ein faires Verfahren sei nicht mehr gewährleistet. Der Angeklagte Sanel M. im Tuğçe-Verfahren, von der Bild-Zeitung als "Koma-Schläger" verfolgt, wäre dann ohne Strafe aus dem Verfahren gegangen. Und die Bild-Zeitung hätte sich das zurechnen müssen - hätte sich dann quasi der Strafvereitelung schuldig gemacht.

Sex, Haie und Hitler

Soeben, zum Abschluss des Tuğçe-Prozess, räsonierte Richter Aßling sehr grundsätzlich über den beklagenswerten Drang der neuen Medien, die Welt in Gut und Böse einzuteilen. Das Gericht verteidigte sich gegen den Vorwurf, das Opfer der Straftat, die Studentin Tuğçe, vom Denkmal gestoßen zu haben. Die Medienöffentlichkeit hatte sie sogleich nach der Tat da hinaufgehoben, weil man in ihr nicht einfach ein Opfer, sondern ein Ideal, ein ideales Opfer sehen wollte. Ein solches ideales Opfer ist nämlich in der Lage, ein Maximum von Mitgefühl, von Klick- und Leserzahlen zu gewinnen.

Die alte Journalistenantwort auf die Frage, auf welche Geschichten die Leute am meisten anspringen, lautet: Sex, Haie und Hitler. Sie muss ergänzt werden um ein viertes: Geschichten über ideale Opfer. Die katholische Kirche braucht, um aus einem Menschen einen Heiligen zu machen, Jahre und Jahrzehnte. Die Medien brauchen dazu, wenn es pressiert, nur ein paar Stunden. Die Justiz, die nicht für Verklärung, sondern für Aufklärung zuständig ist, liegt zeitlich dazwischen.

Urteilsverkündungen sind ein pfeifendes Ventil geworden

Der von Richter Aßling im Tuğçe-Verfahren beklagte mediale Drang zur Schwarz-Weiß-Zeichnung ist allerdings nicht neu. Man kann ihn in fast allen großen Strafprozessen der vergangenen Jahrzehnte studieren, oft genug hat die Justiz auch selbst großflächig schwarz-weiß gemalt - man lese dazu die Gerichtsberichte von Uwe Nettelbeck aus den Jahren 1967 bis 1969, die kürzlich bei Suhrkamp neu publiziert wurden. Die Strafjustiz ist seit den Sechzigerjahren besser, die Öffentlichkeit ist lauter geworden; sie verschafft sich, in Blogs und Internetforen, mehr Raum für Hab und Gier als früher. Darauf reagieren die Richter in ihrem Raum, im Gerichtssaal, dort also, wo sie die Macht haben und diese auch risikolos ausüben können - zum Abschluss des Verfahrens.

Das Spannungsverhältnis zwischen Gericht und Medienöffentlichkeit ist spannungsgeladener als früher. Die Urteilsverkündungen sind, über ihren eigentlich Sinn und Zweck hinaus, ein pfeifendes Ventil geworden, eine Art Notwehr gegen echte oder vermeintliche Missachtung und Behinderung des Gerichts. Wenn dieses Ventil maßvoll eingesetzt wird, ist dagegen nicht viel zu sagen. Es darf nur kein Pfeifkonzert daraus werden.

Und es geht auch nicht an, dass ein Richter in seiner Urteilsbegründung erklärt, er wisse nicht mehr, ob er nach all den Medienkampagnen noch unabhängig habe richten können. Wenn das so ist, hätte er sich rechtzeitig für befangen erklären müssen. Zur richterlichen Unabhängigkeit gehört es, sich ihre Gefährdungen bewusst zu machen und darauf souverän, und nicht beleidigt, zu reagieren.

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