Japan nach der Katastrophe:Schutt, so weit das Auge reicht

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Nichts ist geblieben: Auch vier Wochen nach der Katastrophe in Japan kämpfen sich viele Menschen in den Tsunami-Gebieten noch durch einen provisorischen Alltag in Notunterkünften. Die Aufräumarbeiten werden noch Monate dauern.

Christoph Neidhart, Minamisanriku

Auf und ab schlängelt sich die Straße durch den Kiefernwald, an kleinen Bauernhäusern und Bambushainen vorbei. Und hinter der nächsten Kurve öffnet sich die Hölle. Der Rumpf eines Fischkutters liegt seitlich am Straßenrand, im Bachbett vermodern zertrümmerte Häuser; überall liegen zerquetschte Autos, einige hängen am Waldrand verkeilt in den Bäumen. Schutt, so weit das Auge reicht, auch vier Wochen nach dem Tsunami noch. Menschen sieht man zuerst keine. Einzelne Autos fahren im Schritttempo durch die freigeschaufelt Pfade. Ein Möwenschwarm kreischt über dem bisherigen Fischerstädtchen Shizugawa, dem Ortskern von Minamisanriku.

Etwa die Hälfte der 17.000 Bewohner sind tot oder werden vermisst: In Minamisanriku ist nach dem Tsunami nichts mehr wie es einmal war. (Foto: AP)

Das Wasser, das der Tsunami zurückgelassen hat, ist versickert - aber das ganze Tal riecht noch wie der Strand bei Ebbe.

Etwa die Hälfte der 17.000 Bewohner von Minamisanriku sind tot oder werden vermisst. Die Überlebenden hausen seit vier Wochen in Notunterkünften. Das Leben hat sich aus Shizugawa zurückgezogen. Nur über der Linie der Zerstörung, die der Tsunami in die Hänge gekerbt hat, scheint alles normal. Aus dem ehemaligen Ortskern ragen die Skelette einiger Gebäude, das Krankenhaus von Minamisanriku steht noch da, allerdings verwüstet, das Wasser reichte bis unters Dach.

Nichts ist geblieben. Am kaputten Hafen von Shizugawa brennen Scheiterhaufen; drei Feuerwehrleute sitzen in ihrem Wagen und passen auf. Für Metallmöbel, Kühlschränke und Fernseher sah man auf der Herfahrt eine Sammelstelle, ein Lkw transportierte Autowracks ab. Aber noch weiß niemand, wie Japan etwa 80 Millionen Tonnen Müll entsorgen soll.

Vom Bahnhof ist nur der Parkplatz geblieben. Unweit davon liegt ein Postkartenalbum im Sand, eine Großmutter hat die Neujahrsgrüße ihrer Enkel und von Bekannten aufbewahrt. Weiter hinten ein aufgeweichter Teddybär, eine zerschlagene Kloschüssel. Draußen auf der Bucht schwimmen viele Schuttinseln. Die Leichen sind geborgen, an diesem Samstag sieht man keine Überlebenden mehr, die Trümmer durchsuchen.

Nur Soldaten arbeiten sich durch den Schutt, sie bergen wertvolle Gegenstände, vor allem Erinnerungsstücke. Freiwillige reinigen diese dann, sortieren sie und suchen ihre Eigentümer. Vor einigen Tagen haben sie einige Schulranzen in eine Notunterkunft gebracht, Familienfotos, Taschen. Wenn die Soldaten fertig sind, wird die Parzelle jeweils für die Bagger freigegeben.

Wo ein Städtchen war, ist jetzt Brachland

Im Nachbarort Tokura ist diese Arbeit fast abgeschlossen; wo das Städtchen war, ist jetzt Brachland. Aber bis die ganze lange Küste so aufgeräumt ist, wird es Monate dauern. Auf der Straße nach Tokura hoch über der Küste passiert man ein sauberes Schild: "Bis hier kann ein Tsunami das Land überschwemmen." So hoch stiegen die Wellen diesmal nicht. Man rechnete in Minamisanriku mit einem Killer-Tsunami. Und baute Sperren. Aber das Meer hat sie einfach weggeschoben oder zertrümmert.

Auf einer Anhöhe hinter Shizugawas Hausberg Tennosan fanden nach dem Tsunami 1500 Menschen in der Sporthalle eine Notunterkunft. Frierend harrten sie aus; ohne Strom, ohne Heizung, fast ohne Lebensmittel und ohne Benzin. Abgeschnitten. Die japanische Armee habe, anders als die amerikanische, Helikopterflüge nur zur Rettung, aber nicht zur Versorgung geflogen, weiß hier jemand. Die Bürokraten in Tokio hätten das nicht erlaubt.

Was ist das für ein Land, das einen Killer-Tsunami live aus dem Hubschrauber im Fernsehen überträgt, aber keine Hilfsflüge gestattet, wenn die Menschen hungern? Inzwischen stehen auf dem Vorplatz der Sporthalle zwei Satelliten-Übertragungswagen, Minamisanriku ist in Japan eine große "Story". Auf einem Großbildschirm flackert eine Seifenoper; ein Jahrmarktstand gibt Kindern Zuckerwatte aus, ein Musiker spielt auf. Strom gibt es immer noch nicht, seit dem starken Nachbeben vorige Woche in der ganzen Region nicht. Aber eine Telefongesellschaft hat Lade-Generatoren aufgestellt.

Zwei Drittel der Obdachlosen aus der Halle sind inzwischen in vorerst dauerhafte Provisorien in Städtchen 20 bis 30 Kilometer hinter der Küste verlegt worden. Bis im September ihre Nothäuser gebaut sind, sollen sie dort bleiben. Manche zögern, das zu akzeptieren. Die Menschen an der Küste haben mit dem Rücken zum Land gelebt, die Menschen im Inland ohne Blick für die Küste. "Nach Kurihara", sagt ein alter Mann über ein 30 Kilometer entferntes Städtchen, "das ist mir fremd. Was soll ich dort?" In der Halle gefällt es ihm aber auch nicht. Wie er wollen drei Schulabgänger nicht weg, sie hätten dieses Frühjahr Stellen bei Fischerei-Betrieben antreten sollen, aber die Firmen sind im Tsunami verschwunden.

Auf den Tennisplätzen der Sportarena ist ein Container-Rathaus aufgebaut worden. Die Stadtverwaltung ist in den Fluten verschwunden; und mit ihr das Familienregister, das Steuerregister und allen andern, auch die historischen Dokumente. Auch eine Post gibt es jetzt im Container, und Büros der Firma, die Notunterkünfte baut. Dahinter hat die Armee ihre Zeltstadt errichtet.

Mitten im Getümmel hinter der Sporthalle steht ein israelischer Reserve-Oberstleutnant, Ofer Merin, im Zivilberuf Herzchirurg. Er leitet eine israelische Feldklinik, das einzige Ärzteteam aus dem Ausland. Ausländer dürfen in Japan keine japanischen Patienten behandeln, Tokio lehnte ärztliche Hilfsangebote ab. Isamu Sato, der Bürgermeister von Kurihara, wehrte sich dagegen - und setzte sich durch.

Er war als Jugendlicher in einem Kibbuz. Erdbeben-Verletzungen hätten sie kaum behandelt, erst nach dem Nachbeben vorige Woche ein paar, erzählt Merin. Ein Tsunami hinterlässt keine Verletzten. Sie versuchen, den Menschen in den Notunterkünften und in den Häusern die normale Versorgung zu bieten. Denn alle Kliniken der Umgebung sind zerstört, die Israelis haben das einzige funktionierende Labor der Region.

"Die zweite Phase der Katastrophenhilfe geht zu Ende"

Auf Veranlassung des Gynäkologen Moshe Pinkert rekonstruierte die überlebende Hebamme von Minamisanriku eine Liste der schwangeren Frauen; auch ihre Unterlagen sind verloren. Zusammen suchten sie diese in den Notunterkünften und Häusern auf. Die Frauen hatten seit dem Tsunami keinen Arzt mehr gesehen, zwei waren Risiko-Schwangerschaften. "Zu einem ausländischen Gynäkologen Vertrauen zu haben, ist etwas anderes, als wegen eines Beinbruchs zum Arzt zu gehen", sagt Pinkert.

Andere Ärzte im Team sind weniger glücklich: Die Japaner würden nie eine Zusatzinformation zu einer Antwort geben, sagt einer. Und die japanischen Ärzte in der Unterkünften hätten ihnen wenige Patienten überwiesen. Merin ist beeindruckt vom Durchhaltewillen der Opfer, von der Tapferkeit.

Die Überlebenden dürften ahnen, dass ihnen, wenn der Rummel um sie vorbei ist, kaum mehr geholfen ist. Das japanische Rote Kreuz hat bekanntgegeben, es zahle jedem, der einen engen Angehörigen oder sein Haus verloren habe, 360.000 Yen, etwa 3000 Euro. Damit kann sich niemand eine neue Existenz aufbauen. Man hätte das schon anders erwartet von einem Land wie Japan, meint ein israelischer Arzt. "Die zweite Phase der Katastrophenhilfe geht zu Ende", sagt Ofer Merin. Sein 55-köpfiges Team wird diese Woche nach Israel zurückkehren. Die Klinik mit dem einzigen Labor für die Region und einer Röntgenanlage lässt es japanischen Kollegen zurück.

© SZ vom 11.04.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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