Sehr viele Gedanken werden sich die Menschen in Weyhe über ihren im Ortsteil Kirchweyhe gelegenen Bahnhof noch nicht gemacht haben. Die Bahn baut ihn gerade um, Bahnsteige werden angehoben, verlängert und verlegt. Bauzäune klappern im Wind, und provisorische Übergänge queren die Gleise. Der Bahnhof soll funktionieren, fit sein für den Alltag, das schon. Die Pendler brauchen ihn, um zur Arbeit nach Bremen zu fahren. Aber sonst? Der Kaffee im Kiosk ist heiß und der Milchschaum fest, die Zeitungen riechen nach druckfrischer Farbe. Auf dem Vorplatz kommen Busse an und fahren ab, pünktlich nach Fahrplan, wenn es gute Tage sind. Und manchmal am Wochenende hält mitten in der Nacht so ein privater Discobus, die jungen Leute huschen dann heim durch die Nacht oder um die Ecke ins Maddox, weiter feiern.
Hier hält sich niemand auf. Der Bahnhof im Speckgürtel der Großstadt war bisher ein flüchtiger Ort des Durchgangs, wie überall sonst. Nicht der Rede wert. Jetzt, sagt Bürgermeister Frank Lemmermann, "ist er ein Symbol". Weyhe sei über Nacht "anders geworden".
Es ist Samstagvormittag, wieder einer dieser erbärmlich kalten Tage eines nicht enden wollenden Winters, und Lemmermann steht auf einer kleinen Bühne vor dem Bahnhof und hält eine Rede. Nie hätte er geglaubt, dass das mal sein müsste: "Ich habe es für unmöglich gehalten." Nach ihm wird noch Pastor Holger Tietz sprechen und bitten, die in den Taschen geballten Fäuste zu öffnen und dem anderen die Hand zu reichen. Und dann sollen die Leute schweigen.
Liebe für Daniel, Hass auf die Täter
Es ist ja ein stilles Gedenken geplant gewesen als Erinnerung an Daniel S., 25, der auf diesem Bahnhofsvorplatz in Weyhe irgendwo in Niedersachsen in der Nacht vom 9. auf den 10. März aus dem Discobus aussteigen und durch die Nacht nach Hause huschen wollte, oder rüber ins Maddox. Er habe kaum einen Fuß aus der Bustür gesetzt, sagen die Ermittler, da sei er auch schon attackiert worden. Im Bus habe er einen Streit schlichten wollen, in den er ursprünglich gar nicht verwickelt gewesen sei. Der Mut sollte sich aufs ärgste rächen: Ein Tritt in den Rücken, ein Sturz gegen den Bus, ein Aufprall auf das Straßenpflaster, genau dort, wo jetzt hundert Grablichter brennen und Tulpengebinde langsam erfrieren und Liebesbotschaften neben Hassbriefen an der Straßenlaterne kleben. Liebe für Daniel, Hass auf die Täter.
Als er am Boden gelegen habe, auf dem Bahnhofsvorplatz, kurz nach vier Uhr morgens, sei es noch nicht vorbei gewesen. Noch mehr Tritte. Daniel S., Lackierer, eines von vier allesamt erwachsenen Kindern einer alleinerziehenden Mutter, kam ins Krankenhaus. Dort starb er am vergangenen Donnerstag, als die Ärzte die Geräte abschalteten. Sein Gehirn sei zu schwer geschädigt gewesen, hieß es.
Streit, Tritte, Tod, diesen Dreiklang zügelloser Brutalität gab es häufiger in letzter Zeit, in München oder Berlin oder Hamburg, und selbst diese Millionenmetropolen haben gebebt. Das alleine hätte schon gereicht, um Weyhe, diesen aus vielen kleinen Gemeinden zusammengeschraubten Ort, nicht mehr so einfach zur Ruhe kommen zu lassen. Aber hier kommt noch etwas dazu. Es ist so, dass der 20 Jahre alte Haupttäter nicht nur ein Weyher Bürger ist, ein nach allem, was an diesem Samstag zu erfahren war, hier geborener und sozialisierter junger Mann, sondern ein Weyher Junge mit Migrationshintergrund. So heißt das, wenn jemand Sohn türkischer Eltern ist und einen deutschen Pass hat. Cihan S. soll auch Deutscher sein, das hat zumindest Andreas Bovenschulte gehört, Bremer SPD-Vorsitzender und Erster Gemeinderat von Weyhe. Bestätigt ist das nicht.
"Türken-Schläger" hätten Daniel S. getötet, heißt es im Internet
Für die Blitzbewertung der Tat im Internet ist es ohnehin unerheblich, da stören alle Fakten. Ein Türke war es, wie die Bekannten des Haupttäters Cihan S. auch - alles Türken. Die Bild-Zeitung habe als einziges Medium "die Wahrheit" geschrieben und die Herkunft benannt. Sie wird im rechtsextremen Netzwerk dafür gefeiert. Im Internet kursiert schnell, "die Türken-Schläger" hätten Daniel S. getötet, eine "Türken-Bande", "Türken-Horden", türkische Kopftreter und so weiter. Sogar am Ort des Gedenkens hängen solche Generalanfeindungen, im heimischen Drucker ausgedruckt und sorgfältig laminiert gegen den Nieselregen, direkt neben roten Luftballons in Herzform.
Im Internet hat auch niemand die Geduld gehabt, darauf zu warten, bis er etwas Fundiertes über Daniel S. erfährt, das Opfer. 25 Jahre, Zwillingsbruder, Lackierer. Dort wird er, angeblich von jungen Türken, als "Bastard-Nazi" beschimpft, von dem es nun einen weniger gebe. Natürlich sind alle Verfasser anonym. Jeder Türke könnte hier ein Deutscher, jeder Deutsche ein Libanese sein, jeder scheinbar Erwachsene ein Kind. Daniel S. war, sagt der Bürgermeister, "nach allem, was ich gehört habe, ein feiner Junge. Er war kein Nazi."