Süddeutsche Zeitung

Nach dem Massenmord:Orlando - Stadt der Helden, Stadt der Trauer

Lesezeit: 3 min

Mit einer Umarmung das Leben gerettet: Neben den Horror- werden auch immer mehr Heldengeschichten über das Attentat im "Pulse" bekannt. Tausende versammeln sich, um an die Opfer zu erinnern.

Von Johannes Kuhn, Orlando

Egal, wo man zwei Tage nach dem Attentat in Orlando hinkommt, man sieht nur betroffene Gesichter. Viele schütteln den Kopf, wollen nicht darüber reden. In den Hotels, Cafés und Taxen laufen die Nachrichten in Fernsehen oder Radio in Dauerschleife. Alle wollen auf dem neuesten Stand sein über das Blutbad in ihrer Stadt.

Es sind nicht nur Geschichten über den grenzenlosen Horror, denen sie zuhören, sondern auch über Helden. Die Berichte über die unermüdlichen Rettungskräfte und Ärzte, die blitzschnelle Hilfe der Mitarbeiter des "Pulse"-Clubs, den Zusammenhalt der Gäste: Diese Geschichten sind es, an die sich die verunsicherte Stadt klammert.

Ein junger Mann namens Chris Enco ist extra an die Polizeiabsperrung vor dem Club gekommen, um von der Rettung seines besten Freundes Rodney Sumter zu erzählen. Sumter arbeitet im Pulse als Barmann. Omar Mateen hat ihn an beiden Armen und an der Schulter getroffen.

Drei Schussverletzungen; Sumter blutet stark. Das Leben rettet ihm in jenen kritischen Stunden Josh McGill, ein Gast des Nachtclubs. Die beiden kennen sich nicht. McGill hilft Sumter, bindet dessen stark blutende Wunden mit T-Shirts ab und bringt ihn zu einem Polizeiauto. Die Polizisten können sich nicht um alle gleichzeitig kümmern, also fragen sie McGill, ob er Sumter ganz fest umarmen könne, bis der Krankenwagen eintrifft. Mit einem bear hug, einer Bärenumarmung, soll er die Einschusswunden abdrücken, damit die Blutung gestoppt wird. McGill tut, wie ihm geheißen - und rettet Sumter damit das Leben.

"Ich wünschte, ich hätte mehr retten können"

"Rodney hat überlebt, dem Himmel sei Dank", sagt Chris Enco, der Freund des Angeschossenen am Tag darauf an der Polizeiabsperrung. Dennoch gehe es ihm sehr schlecht, nicht nur wegen der Schusswunden und der Operation, die er am Montag über sich ergehen lassen musste. Vor allem sei er von Traurigkeit und Angst so überwältigt, dass er sich nicht einmal auf der von den Behörden veröffentlichten Liste nachzusehen traue, wer alles unter den Todesopfern ist. "Es waren alles Freunde und Bekannte, er kannte und liebte sie alle."

Imran Yousuf, ein Türsteher des Pulse, weint im Gespräch mit dem TV-Sender CBS. Und das, obwohl der Afghanistan-Veteran 50 bis 60 Menschen das Leben rettete, als er nach Beginn der Schießerei im hinteren Bereich die Initiative ergriff und eine versperrte Sicherheitstür öffnete. "Ich wünschte, ich hätte mehr retten können. Es sind so viele Menschen tot, so viele Menschen."

Der Chirurg Joshua Corsa hat auf seiner Facebook-Seite ein Foto seiner blutdurchtränkten Schuhe gepostet und schildert, wie er und das ganze Personal seines Krankenhauses die Schwerverletzten versorgten. "In den Fasern dieser Schuhe ist das Blut 54 unschuldiger Menschen. Ich weiß nicht, wer hetero, schwul, schwarz oder Latino war. Was ich weiß, ist, dass sie zu uns kamen in Wellen und Wellen von Leid, Schreien und Tod. Und irgendwie haben Ärzte, Krankenschwestern, Techniker, Polizei, Notärzte und andere übermenschliche Sorgfalt und Zuwendung geleistet."

"Ich kann nicht daheim rumsitzen und nichts tun"

Bei einer Mahnwache am Abend zeigen Tausende ihre Solidarität mit den Opfern und ihren Familien, auf der Bühne finden sich Überlebende, Nothelfer, Lokalpolitiker und religiöse Würdenträger zusammen. Während die Polizeihubschrauber über einem der zentralen Plätze Orlandos kreisen, zünden unten die Teilnehmer Kerzen an und halten sich gegenseitig fest.

Viele der Anwesenden sind schwule oder lesbische Paare, die die Opfer des Blutbads persönlich kennen. Von Trauer überwältigt liegen sich Pärchen, Freunde und Bekannte in den Armen, weinen und tauschen Geschichten über die Verstorbenen aus. "Das hier ist für mich wie eine Therapie", sagt einer der Teilnehmer, der gleich mehrere Freunde bei der Massenschießerei verloren hat. "Ich kann nicht daheim herumsitzen und nichts tun. Wenn ich beschäftigt bin, komme ich wenigstens nicht ins Grübeln." Fast jeder hier kenne jemanden, der einen guten Freund oder Partner verloren habe, erzählt eine Aktivistin.

Am Ende hält die Menge die Kerzen in die Höhe und 49 Glockenschläge erklingen, einer für jeden der Getöteten. Die Trauer trifft sie mit voller Wucht.

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