Nach dem Erdbeben:Chile am Rand der Anarchie

Chile droht nach dem Erdbeben im Chaos zu versinken: Plünderer sterben bei Schießereien mit dem Militär, ein Kaufhaus geht in Flammen auf - und die Menschen warten weiter auf Wasser und Lebensmittel.

Die Lage in den chilenischen Erdbebengebieten wird zunehmend explosiv: Aus Vororten der Stadt Concepción, die von dem verheerenden Beben mit mehr als 700 Toten besonders schwer betroffen war, wurden am Montag Schießereien zwischen bewaffneten Bürgerwehren, Plünderern und dem Militär gemeldet. Dabei sind in der Gemeinde San Pedro de la Paz nach dpa-Informationen zwei Menschen getötet worden. Das Innenministerium bestätigte einen Toten. Etwa 160 Menschen seien festgenommen worden. Die Menschen im Erdbebengebiet klagen über mangelnde Versorgung mit Essen und Wasser.

In Concepción gingen ein Kaufhaus und ein Großmarkt nach Plünderungen in Flammen auf. Dabei sollen nach unbestätigten Berichten bis zu 20 Menschen ums Leben gekommen sein. Marineinfanteristen versuchten, ein Abgleiten der Großstadt in die Anarchie zu verhindern und gaben Schüsse in die Luft ab.

Nach Angaben von AFP-Reportern wurde eine Gruppe von Dutzenden Einwohnern zunächst von der Polizei zurückgedrängt, als sie versuchte, sich in der 500.000-Einwohner-Stadt in einem Supermarkt mit Lebensmitteln zu versorgen.

Als die Beamten Tränengas einsetzten, zündeten die Plünderer das Gebäude an. Durch die Flammen stürzte ein Teil des Daches ein, ein Feuerwehrmann wurde verletzt. Auch ein Zivilist, dessen Kleidung in einem ebenfalls in Brand gesteckten Einkaufszentrum Feuer fing, wurde verletzt.

Kein Wasser, Essen, Strom

Viele Bürger sehen sich zu Einbrüchen und Plünderungen von Lebensmittelgeschäften gezwungen, da auch drei Tage nach dem Beben der Stärke 8,8 noch immer kaum Wasser und Lebensmittel in Concepción angekommen sind - und schon gar nicht in den kleineren Ortschaften des Katastrophengebiets. Die Versorgung mit Wasser, Strom und Gas ist ebenfalls seit dem Beben am Samstagmorgen unterbrochen.

Im Kampf gegen Plünderung und Gewalt schickte Präsidentin Michelle Bachelet 5000 weitere Soldaten in die Erdbebengebiete. Neben Concepción ist über drei weitere Städte eine nächtliche Ausgangssperre verhängt worden, um so Plünderungen und Gewalt zu verhindern. Betroffen seien die Städte Talca, Cauquenes und Constitucion, teilte das Militär mit. Die Ausgangssperre solle bis Dienstagfrüh gelten.

Brasiliens Präsident Luiz Inácio Lula da Silva stattete als erster Staatschef Chile nach dem Beben einen Besuch ab. Er sagte jede erdenkliche Hilfe zu. Am Dienstag wurde auch US-Außenministerin Hillary Clinton in Santiago erwartet. Sie wollte sich vor Ort einen Eindruck von dem Ausmaß der Katastrophe machen.

Flugzeug mit Helfern verunglückt

Unterdessen verunglückte eine kleine Propellermaschine auf dem Weg nach Concepción. Die sechs Menschen an Bord seien dabei ums Leben gekommen, hieß es. Bei den Passagieren habe es sich um Helfer sowie um Mitarbeiter einer Universität gehandelt, teilte die Behörde für Zivilluftfahrt mit.

Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte dem südamerikanischen Land Hilfe beim Wiederaufbau zu. In einem Telefonat mit Präsidentin Michelle Bachelet stellte Merkel über die Nothilfe hinaus Unterstützung in Aussicht, teilte Vize-Regierungssprecherin Sabine Heimbach in Berlin mit.

Auch bei der EU in Brüssel ging eine Bitte um Hilfe aus Chile ein. Benötigt würden vor allem Unterstützung beim Bau von Brücken, medizinische Betreuung, Anlagen zur Wasseraufbereitung und Telekomverbindungen, sagte die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton in Brüssel.

"Ganze Ortschaften fortgerissen"

Die Zahl der registrierten Todesopfer wurde mit 723 angegeben. Die Zahl werde jedoch weiter steigen, sagte Innenminister Edmundo Pérez Yoma. "In den Küstenregionen hat ein Tsunami ganze Ortschaften fortgerissen. Je mehr Zeit vergeht, desto mehr schlechte Nachrichten werden wir bekommen."

Das Erdbeben vom Samstag ist das fünfstärkste Beben gewesen, das jemals gemessen wurde. Eine halbe Stunde später zerstörte ein Tsunami mehrere Küstenorte.Vor allem in Maule und Bíobío gelten zahlreiche Menschen noch als vermisst. Die genaue Zahl der Obdachlosen war unbekannt. Die Zahl der zerstörten oder beschädigten Wohnungen wurde mit etwa zwei Millionen angegeben.

Im Video: Die Regierung hat Tausende Soldaten in den Erdbebenregion geschickt, um den Plünderungen Einhalt zu gebieten. Es kam bereits zu Schießereien.

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