Nach dem Beben in Haiti:"Das ist Raub, nicht Adoption"

Verwirrt, verwaist, verschleppt: An der Grenze zur Dominikanischen Republik wurden zehn US-Bürger wegen mutmaßlichen Kindesraubs festgenommen. Angeblich ging es ihnen um die "Rettung haitianischer Waisenkinder".

Ihre Bilder gehen seit dem 12. Januar um die Welt und geben der Katastrophe ein Gesicht: Unzählige Kinder verloren bei den verheerenden Erdstößen ihre Eltern, irrten gerade in den ersten Tagen verletzt und verwirrt durch die Straßen. Und es sind nicht nur die unmittelbaren Folgen des Bebens, die eine Bedrohung für die Kleinsten darstellen: Vermeintliche Helfer nutzten das Chaos nach dem Beben offenbar, um die bürokratischen Hürden für die Adoption von Kindern aus Haiti zu umgehen.

Haiti, Kinder, AP

Junge Erdbebenopfer: Seit den Erdstößen vom 12. Januar wurden die Verfahren zur Adoption haitianischer Kinder beschleunigt.

(Foto: Foto: AP)

Wie der haitianische Sozial- und Arbeitsminister Yves Christallin in Port-au-Prince bekanntgab, wurden nahe der Grenze zur Dominikanischen Republik zehn US-Bürger wegen mutmaßlichen Kindesraubs festgenommen. Ihnen wird vorgeworfen, 31 Kinder im Alter zwischen zwei Monaten und zwölf Jahren entführt zu haben, um sie außer Landes zu bringen.

Die Amerikaner gaben an, dass es sich um Waisenkinder handele, die im Nachbarland in einem Heim untergebracht und versorgt werden sollten.

Geschäfte mit den Kleinsten

Unabhängig von ihrer Motivation hätten die Amerikaner gegen haitianisches Recht verstoßen, teilten die haitianischen Behörden mit. Allein das Sozialministerium in Port-au-Prince sei berechtigt, zu entscheiden, ob Minderjährige das Land verlassen dürfen.

Zu den Festnahmen der US-Bürger sagte Christallin: "Das ist Raub, nicht Adoption." Seit dem Erdbeben vom 12. Januar wurden die Verfahren zur Adoption haitianischer Kinder beschleunigt. Die US-Regierung hatte ihre Bürger aufgerufen, bei der Adoption haitianischer Kinder Geduld an den Tag zu legen und Zeit für "transparente" Verfahren zu lassen.

Immer wieder werden Berichte über Menschenhändler bekannt, die mit der Vermittlung haitianischer Waisen an Paare vor allem in den USA und Europa Geschäfte machen. Das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen hat deshalb damit begonnen, die Waisenkinder im Erdbebengebiet zu erfassen, um sie besser schützen zu können. Die Zahl der Waisen oder von ihren Eltern getrennten Kinder wird auf eine halbe Million geschätzt.

Neben den zehn US-Bürgern wurden auch zwei Haitianer festgenommen. An der Aktion seien zwei Geistliche beteiligt gewesen, einer aus Haiti und einer aus Atlanta im US-Bundesstaat Georgia, sagte Christallin. Der Minister erläuterte, die Festgenommenen gehörten zu der Hilfsorganisation New Life Children's Refuge, die ihren Sitz in Idaho habe.

Auf einer Internetseite der Organisation heißt es, einhundert haitianische Kinder sollten in der Dominikanischen Republik in Sicherheit gebracht werden. Freiwillige wollten sich dort um die Kinder kümmern. Es gehe um die "Rettung haitianischer Waisenkinder", die in Straßen alleingelassen, in Behelfskrankenhäusern untergebracht worden seien oder aus zusammengebrochenen Waisenhäusern stammten. Dafür werde der "Segen Gottes" erbeten, damit die Regierung der Dominikanischen Republik den Einsatz unterstütze.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, mit welchen Worten sich der haitianische Präsident erstmals nach dem Beben an die Bevölkerung gewandt hat.

Ein Präsident ist auch nur ein Mensch"

Unterdessen hat sich der haitianische Präsident René Préval bei der Bevölkerung für sein langes Schweigen nach dem Erdbeben entschuldigt. "Ein Präsident ist auch nur ein Mensch und der große Schmerz ist stumm", sagte er in seinem ersten Interview mit dem einheimischen Sender TVC am Samstag. Er selbst sei dem Erdbeben nur entkommen, weil er den Präsidentenpalast wegen eines Termins früher als sonst verlassen habe.

Bei dem Beben am 12. Januar starben nach jüngsten Schätzungen der Regierung 180.000 Menschen.

Wie US-Medien am Samstag berichteten, hat das US-Militär Evakuierungsflüge von verletzten Erdbebenopfern aus Haiti in die USA vorläufig eingestellt. Hintergrund seien finanzielle Unstimmigkeiten darüber, wer die Behandlung bezahlt. So habe der Gouverneur von Florida, Charlie Crist, bei der Regierung in Washington bereits um finanzielle Hilfe gebeten.

Lebensmittelausgaben speziell für Frauen

Laut New York Times hat das US-Militär seit dem Beben mehr als 500 verletzte Erdbebenopfer allein nach Florida ausgeflogen. Wie ein Sprecher des Transportkommandos des US-Militärs der Zeitung sagte, seien die Stellen, zu denen man die Verletzten bringe, "nicht länger bereit, diese Patienten anzunehmen, ohne dass zuvor eine von der Regierung ausgearbeitete Vereinbarung darüber getroffen wurde, wer für die Behandlung aufkommt".

Von Krankenhaus-Vertretern in Miami wurde diese Darstellung jedoch mittlerweile zurückgewiesen. Sein Krankenhaus sei "weiter bereit, Menschen aufzunehmen, auch wenn wir noch nicht wissen, wer das bezahlen wird", sagte der Direktor der Universitätsklinik Miami, William O'Neill, dem Miami Herald.

Das Welternährungsprogramm (WFP) teilte indes mit, man wolle wegen Rangeleien an den Verteilstellen für Frauen zukünftig gesonderte Lebensmittelausgaben einrichten. Die Schwächsten würden oftmals zurückgedrängt, wenn die Hilfsorganisationen Lebensmittel verteilten. "Bislang waren wir in einer Phase der schnellen und ungeregelten Verteilung", sagte WFP-Sprecher Marcus Prior. "Aber mit dem robusteren Verteilungssystem werden wir mehr Menschen schneller erreichen."

An den 16 neuen Verteilstellen sollten grundsätzlich nur Frauen zum Zuge kommen. Sie erhalten Gutscheine für 25-Kilo-Säcke Reis. Das neue System soll innerhalb von zwei Wochen rund zwei Millionen Haitianern zugute kommen. Es sei wichtig, in der Lebensmittelverteilung eine Phase der "Stabilisierung" zu erreichen, sagte Prior.

Das WFP will zudem mit der UN-Mission in Haiti und der US-Armee eng zusammenarbeiten, um Ausschreitungen bei den Lebensmittel-Verteilungen zu verhindern. Die haitianische Regierung hat das Weiterverkaufen von Lebensmittelhilfe inzwischen für illegal erklärt.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: