Nach dem Anschlag in Berlin:"Das Bedürfnis, Mensch zu sein, ist viel zu groß"

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Der Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz hat wieder geöffnet. Die Stimmung ist gedrückt, doch die Botschaft klar: Es muss weitergehen.

Von Hakan Tanriverdi, Berlin

"Im Moment ist nur Platz für Trauer", sagt Frank. Ihm gehört einer der etwa 170 Stände am Berliner Breitscheidplatz, direkt neben der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche. Auf jenem Weihnachtsmarkt, wo ein mutmaßlicher Terroranschlag zwölf Menschen in den Tod gerissen hat. "Das hier ist ein zentraler Platz für Berliner", sagt Frank, der nicht mit seinem Nachnamen erwähnt werden will. "Deswegen ist die Stelle leider auch ideal gewählt für jeden, der Böses im Sinne hat."

Der Täter befindet sich noch auf der Flucht, als an diesem Donnerstagmorgen die Stände wieder öffnen. Edelsalami, Glühwein, T-Shirts mit Sprüchen, Schmuck - es gibt die üblichen Dinge zu kaufen. Um 11 Uhr laden der Schaustellerverband und die Händler zu einer kurzen Andacht in der Gedächtniskirche. Danach werden zwei Gedenktafeln dort aufgestellt, wo der LKW in die Menschenmenge raste: "Wir trauern", steht darauf. Inzwischen stehen hier Betonpoller, Polizisten laufen in Dreiergruppen über den Markt.

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Einige Menschen schlendern zwischen den Ständen, dazwischen immer wieder Journalisten, die aus aller Welt nach Berlin gekommen sind. "Fühlt sich komisch an, ne?", sagt eine Besucherin, die über den Platz läuft. Nahe einem der Eingänge wurden Kerzen und Blumenkränze niedergelegt. Es sind so viele, dass eine Gasse für Fußgänger gebildet werden musste, damit man durchgehen kann.

Normalerweise wäre er am Montag für die Abendschicht zuständig gewesen

An diesem Vormittag bleibt es leer zwischen den Ständen, die Verkäufer unterhalten sich leise. Hin und wieder laufen Menschen vorbei, eng an die Arme und Körper ihrer Freunde geschmiegt. Ein leises Schluchzen, ein Mädchen stolpert. Alles, was einen Weihnachtsmarkt ausmacht, ist von diesem Platz verschwunden: die Musik, die Freude, das Gelächter. "Ich muss mich erst einmal daran gewöhnen, wieder hier zu sein", sagt eine Verkäuferin.

Frank, 49 Jahre alt, verkauft Maronen. Seit mehr als dreißig Jahren steht er im Winter an diesem Platz. "Wir haben hier immer Gelegenheit für schöne Begegnungen gehabt", erzählt er. Normalerweise wäre er am Montag für die Abendschicht zuständig gewesen, doch dieses Mal gab es einen Wechsel. Deshalb war er am Montagabend nicht am Breitscheidplatz. "Manchmal versuche ich, Wut zu entwickeln, aber dafür ist gar kein Platz. Man ist viel zu niedergeschlagen", sagt er. Dass der Markt ab heute wieder geöffnet hat, findet er richtig: "Das muss so sein, das darf nicht anders sein. Das Bedürfnis, Mensch zu sein, ist viel zu groß."

Bei Michael Day hingegen bleibt ein mulmiges Gefühl. Er hat in diesem Jahr zum ersten Mal einen Stand auf diesem Weihnachtsmarkt, verkauft Schmuck. Und war sich nicht sicher, ob er den heute schon wieder aufmachen soll. Er hätte noch ein paar Tage gebraucht, sagt er. "Ich wollte erst gar nicht kommen. Ich bin der Meinung, das ist zu früh." Aber dann hätten ihn die anderen Aussteller angesprochen, "Micha, kommst du auch?", haben sie ihn gefragt. Dann habe er sich ein Herz gefasst und sich gesagt: jetzt erst recht.

Michael Day war am Montagabend am Breitscheidplatz. Seine Nachbarin vom nächsten Stand sei zu ihm gekommen, mit Tränen in den Augen. "Ich bin dann nach vorne gegangen und habe das gesehen, aber nicht realisiert. Ganz ehrlich, ich hatte so was wie einen Blackout. Ich weiß nicht, wie ich nach Hause gekommen bin, obwohl ich mit dem Auto gefahren bin."

Day erzählt, dass er während der Anschläge auf das World Trade Center in New York gelebt hat und wie lange er gebraucht hat, um diesen Schock zu verarbeiten. Nun brechen die alten Erinnerungen wieder auf: "Auf mich wirkt das alles stärker. Von daher ist es jetzt schwer, das hatte man ja verdrängt." Er macht sich Sorgen, ob der Täter, wenn er noch frei herumläuft, hier noch einmal auftaucht. Seine Augen wirken glasig.

"Wir müssen zusammenhalten"

Am Mittwochabend sei er auf den Platz gekommen, um zu wissen, ob er den Stand am Donnerstag öffnen kann. "Mir tut es leid, was den Menschen passiert ist. Man hört sehr wenig drüber. Wie sahen sie aus? Wie hießen sie? Ich will die Gesichter sehen und nicht nur die Zahlen", sagt Day. Trotz des Schocks will er nicht klein beigeben: "Ich bin der Meinung, es muss weitergehen. Ich will es nicht verdrängen. Wir müssen zusammenhalten."

Zwischen den Ständen sind mittlerweile etwas mehr Menschen da. Sie bilden kleine Grüppchen. Von irgendwoher dringt ein verhaltenes Lachen. Am Ausgang stellen Arbeiter gerade einen neuen Stand auf.

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