Süddeutsche Zeitung

Muttermilch-Börse:Stillen online

"Es gibt nun mal Mütter, die haben zu viel Milch, und solche, die haben zu wenig": Deshalb hat Tanja Müller die erste deutsche Internet-Tauschbörse eingerichtet. Wirklich eine gute Idee? Wissenschaftler warnen vor gewaltigen Risiken.

Von Ines Alwardt

Sie steht vor dem Waschbecken im Krankenhaus, auf dem Boden die Fläschchen. Knapp hundert sind es, bis zum Rand gefüllt mit Muttermilch. Tanja Müller laufen Tränen über die Wangen, als sie den Inhalt in den Ausguss kippt. Es ist der Moment, in dem sie weiß: "Ich muss etwas tun."

Ihre Tochter liegt auf der Intensivstation für Frühgeborene, die Kleine kann die Mengen an Milch nicht trinken, die Müller jeden Tag mühsam abpumpt und ins Krankenhaus bringt. Ein Jahr zuvor, als ihr Sohn zur Welt kam, hat Müller sich die Milch herbeigesehnt. Damals litt sie an einer schweren Brustentzündung und konnte nicht stillen. Und nun, bei der Tochter: Milch im Überfluss. Da gibt Müller sich selbst ein Versprechen. "Ich wollte die überschüssige Milch und die Mütter, die keine haben, zusammenbringen", sagt sie heute, zwei Jahre später.

Tanja Müller, Mutter zweier Kinder, gelernte Hotelfachfrau, hat vor einigen Tagen die erste deutsche Online-Börse ihrer Art ins Leben gerufen. Frauen können dort nicht etwa Schuhe kaufen, Klamotten oder Kochrezepte tauschen, sie handeln mit einer ganz natürlichen Flüssigkeit. Auf www.muttermilch-boerse.de verkaufen oder verschenken stillende Spenderinnen ihre überschüssige Muttermilch - an Frauen, die ihren eigenen Kindern selbst nicht die Brust geben können. Es ist ein riskantes Geschäft, warnen Mediziner. Aber es floriert, nicht nur in den USA und Kanada.

Die medizinischen Angaben sind freiwillig

Auf Müllers Internetseite klingen die Angebote wie Kleinanzeigen auf Ebay: "Abgepumpte, eingefrorene, steril abgepackte Milch für Zuckerschnuten", schreibt eine Frau. 4,50 Euro verlangt sie für 100 Milliliter. Glaubt man den Angaben, ist ihr Kind 38 Wochen alt, die Frau Nichtraucherin und fünffache Mutter. Jede Frau, die ihre Milch auf der Börse anbietet, muss das Alter ihres Kindes angeben und ihre Postleitzahl. Die medizinischen Angaben macht jede von ihnen freiwillig: keine Drogen, Hepatitis, Syphilis und kein HIV. Ob das auch stimmt? Eine Garantie gibt es für die Käufer nicht.

"Gemeingefährlich" nennt deshalb Professor Bernd Koletzko, Kinderarzt am Klinikum der Ludwig-Maximilians-Universität in München, solche Börsen. Er sagt: "Man kann nicht einfach eine biologische Flüssigkeit im Internet verhökern." Die Spendermilch einer fremden Mutter an ein anderes Kind zu geben, ohne die notwendigen Sicherheitsstandards einzuhalten, sei "absolut unverantwortlich".

Schwere Krankheiten wie HIV, Hepatitis oder Syphilis könnten über Muttermilch übertragen werden, auch Rückstände von Medikamenten oder Drogen könne sie enthalten. In der rohen Milch könnten sich zudem schnell Keime bilden, warnt Koletzko. Auch der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ) schlägt Alarm. "Wir warnen davor, Muttermilch über das Internet zu beziehen", teilt der Verband mit.

Anders als bei Lebensmitteln aus dem Supermarkt gebe es beim privaten Handel mit Muttermilch keinerlei amtliche Kontrollen. Also besser industriell hergestelltes Pulver? Eine Alternative, die für Mütter wie Tanja Müller keine ist. Obwohl wissenschaftlich nicht erwiesen ist, dass sich die Milch einer fremden Mutter ebenso positiv auf ein Kind auswirkt wie die der eigenen.

"Muttermilch ist das Beste fürs Kind", sagt die 37-Jährige. Die Substanz enthält nicht nur wichtige Vitamine, Enzyme und Mineralien, sondern passt sich auch an die Bedürfnisse des Kindes an. Die Zusammensetzung ändert sich, je älter das Kind wird: Ist die Milch in den ersten Tagen nach der Geburt noch dickflüssig und enthält viele Proteine und Stoffe zur Immunabwehr, wird sie mit der Zeit dünner und milchiger, reicher an Kohlehydraten und Fetten. Deshalb müssen Verkäuferinnen auf der Webseite auch das Alter ihres Kindes angeben.

Die Vorteile der Muttermilch gegenüber Fertigpulver sind bei Medizinern unumstritten: Gestillte Kinder seien besser vor Infektionen geschützt und hätten ein geringeres Risiko, an Diabetes oder Morbus Crohn zu erkranken, auch die Hirnentwicklung beeinflusse die Milch positiv.

"Human Milk 4 Human Babies"

Die Fans der Muttermilch finden sich auf Seiten wie die der Facebook-Gruppe "Human Milk 4 Human Babies - Deutschland". Inserate gibt es viele: Ein Mann schreibt, seine Tochter sei kürzlich im Alter von acht Monaten gestorben. "Es fällt uns schwer, die Milch einfach so wegzuschütten, lieber würden wir sie verschenken. Hat jemand Interesse?" Es sind Schicksale wie dieses, die Tanja Müller dazu gebracht haben, die Börse einzurichten. "Es gibt nun mal Mütter, die haben zu viel Milch, und solche, die haben zu wenig."

Nur für schwer kranke und zu früh geborene Babys gibt es in deutschen Kliniken Frauenmilchbanken. Anfang der Achtzigerjahre wurden die meisten wegen der HIV-Gefahr geschlossen, mittlerweile betreiben wieder elf Krankenhäuser solche Spender-Banken. Wer heute dafür Milch abgeben will, wird vorher genauso detailliert untersucht wie bei einer Blutspende.

Auf www.muttermilch-boerse.de können die Nutzerinnen freiwillig und auf eigene Kosten Proben an das Institut für Milchuntersuchung schicken und dort testen lassen - zum Beispiel auf Keime und spezielle Bakterien. Laborleiter Jürgen Buermeyer analysiert normalerweise nur Milch von Kühen. Er sagt: "Wir erheben nicht den Anspruch eines medizinischen Labors." Der Service sei lediglich ein Angebot, eine hundertprozentige Sicherheit gebe die Untersuchung nicht.

Ein Risiko, das Tanja Müller in Kauf nehmen würde. Mit der Börse habe sie den Handel im Internet nur professioneller machen wollen - und sicherer, sagt sie. Auf ihrer Seite erklärt sie, wie Mütter ihre Milch schockgefrieren und worauf sie achten müssen beim Abpumpen. Der Kinderarzt Berthold Koletzko rät dennoch ab. "Ich bin wirklich ein Verfechter des Stillens", sagt er. "Aber der Vorteil von Muttermilch ist nicht so groß, dass sie die Gefahren einer solchen Börse aufwiegen."

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SZ vom 01.02.2014/dato
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