Süddeutsche Zeitung

Mutmaßlicher Serienmörder:Ein unscheinbarer Mann

Der Rentner Manfred S. lebte bis zu seinem Tod vor zwei Jahren unbehelligt bei Frankfurt am Main. Nun stellt sich heraus: Er tötete vermutlich mehrere Menschen. Wieso blieben seine Taten so lange unentdeckt?

Von Susanne Höll, Wiesbaden

Manfred S. war, so sagen es Angehörige, Bekannte und Kollegen, eigentlich ein ganz normaler Mann. Familienvater, Eigentümer eines kleinen Gartenbauunternehmens im hessischen Schwalbach, begeisterter Musiker. Von einer Alkoholabhängigkeit in früheren Jahren abgesehen, gab es keinerlei Auffälligkeiten. 2014 starb S., mit 67 Jahren. Als seine Tochter seine Garage aufräumte, stellte sich heraus, dass ihr Vater kein Biedermann war, sondern wahrscheinlich ein Schwerverbrecher, vielleicht sogar ein Serienmörder.

In einer Tonne lagen Leichenteile der Frankfurter Prostituierten Britta D., die vermutlich zehn Jahre zuvor umgebracht worden war. Die Polizei untersuchte das Haus von S. und machte eine weitere Entdeckung: Auf seinem Computer waren viele Fotos und Darstellungen schwerster sexuell-sadistischer Gewalt bis hin zu Kannibalismus gespeichert. Die Verletzungen auf den Fotos hätten, so sagen die Polizeibeamten, "fast eins zu eins" den Verletzungen bei den möglichen Opfern von S. entsprochen. Es fanden sich auf dem Computer auch Bilder von Jungen. Eine Sondergruppe der Frankfurter Polizei untersuchte seither alle bislang ungeklärten Tötungsdelikte, bei denen es Anzeichen für einen sadistischen Mord gab. Die Soko Alaska gab am Donnerstag im Landeskriminalamt bekannt, dass S. wahrscheinlich noch vier andere Frauen ermordete, die meisten von ihnen Prostituierte vom Frankfurter Straßenstrich. Und vielleicht ist S. auch für den Tod des damals 13 Jahre alten Tristan Brübach verantwortlich.

Die Polizei nahm Fingerabdrücke von 7000 Personen - ohne eine heiße Spur zu finden

Tristan war im März 1998 im Frankfurter Stadtteil Höchst ermordet aufgefunden worden, auch er wurde verstümmelt. Zunächst konnte man den Jungen nur dank seiner Schulbücher identifizieren, er war fast bis zur Unkenntlichkeit verletzt worden. Jahrelang gingen die Behörden allen möglichen Hinweisen nach, bislang erfolglos. In einer der größten Ermittlungen der deutschen Kriminalgeschichte waren mehr als 21 000 Fingerabdrücke von rund 7 000 Personen genommen worden, nie gab es eine heiße Spur. Am Donnerstag sagt Frank Herrmann, Leiter der Arbeitsgruppe Alaska, über den Zusammenhang mit dem Fall Tristan: "Es gibt zumindest den Verdacht, dass auch er ein Opfer war."

Die sechs toten Frauen und Tristan weisen eine Gemeinsamkeit auf: Ihre Leichen wurden nach Polizeiangaben aus sadistischen Motiven schwer verunstaltet, bei jedem der sechs Toten fehlte ein Körperteil, das nie gefunden wurde. Die Sicherheitsbehörden, die zusammen mit Experten der Münchner Polizei in den vergangenen zwei Jahren die Puzzleteile aller Ermittlungen zusammensuchten, haben bis heute keinen klaren Beweis, dass S. ein Serienmörder war. Doch die Präsidentin des hessischen Landeskriminalamts, Sabine Thurau, sagt, es gebe "keinen Zweifel", dass S. die Prostituierte Britta D. tötete und Teile der Leiche in den Tonnen in der Garage aufbewahrte. "Und dieser Tat sind mit hoher Wahrscheinlichkeit weitere Morde vorausgegangen."

Fünf Frauen könnten es nach Ermittlungen der Beamten gewesen sein. Der erste Fall 1971, der letzte eben jener, bei dem Leichenteile in der Garage gefunden worden. Die Polizei veröffentlichte Fotos der Frauen und präsentierte den Fall nun vor allem aus einem Grund: Die Beamten warten auf Hinweise aus der Bevölkerung. Und hoffen, ihren Verdacht gegen S. doch noch erhärten zu können. Fotos von S. zeigen sie auch. Auf den Bildern ist er als junger, schlanker Mann mit schwarzem Schopf und Schnauzbart zu sehen. Das Haupthaar lichtete sich über die Jahre, der Bart wurde grauer und länger.

"Den hätten wir nie in unsere Ermittlungen aufgenommen", sagt einer der Beamten

Die Ermittler suchen auch nach Hinweisen zu den fünf Frauen. Vier von ihnen waren Prostituierte, einige zu Lebzeiten drogensüchtig: Britta D., Gisela S. und Dominique M. Hatice E., eine junge Frau aus der Türkei, die 1971 in Frankfurt zerstückelt aufgefunden worden war, stammt nicht aus dem Rotlichtmilieu. Sie arbeitete in einem Frankfurter Altenpflegeheim, zu dem auch S. Kontakt gehabt haben soll, in den Zeiten, als er professionell Wohnungen entrümpelte. Die Ermittler hoffen, dass sich vielleicht noch jemand an einen Kontakt mit S. erinnert; an sein Auto zum Beispiel oder an ungewöhnliche Orte, an denen er auftauchte. Auch Hinweise aus der Sadomaso-Szene könnten die Beamten weiterbringen.

Zu viele Fragen sind noch offen. War er ein Einzeltäter? Könnte sein, sagen die Experten. Vielleicht aber auch nicht. Die Leiche von Britta D. sei auf eine Art und Weise zerstückelt worden, die eine gemeinschaftliche Handlung zweier Personen nahelegen könnte. Ein Mittäter also? Die Polizei weiß es nicht.

Es ist gut möglich, dass dieser Fall und sein Ausmaß nie ganz aufgeklärt werden. LKA-Präsidentin Thurau jedenfalls sagt, einen Abschluss dieser Ermittlungen werde es niemals geben können. "Es bleibt für immer beim Tatverdacht. S. selbst lebt nicht mehr. Und die Unschuldsvermutung gilt über den Tod hinaus."

In einem Punkt allerdings sind sich die Beamten sicher: Niemals wären sie in früheren Jahren auf die Idee gekommen, einen Mann wie S. zu den Verdächtigen in Mordfällen zu zählen, geschweige denn als mutmaßlichen Serienmörder einzuordnen. Er sei völlig unauffällig gewesen, ein "völlig unbescholtener Bürger", wie einer der Polizisten sagt. "Den hätten wir nie in unsere Ermittlungen aufgenommen", fügt der Beamte hinzu.

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Quelle:
SZ vom 20.05.2016
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