Süddeutsche Zeitung

Musikfestival Sanremo:Premiere mit Lehrstunde zur Meinungsfreiheit

Erstmals nimmt ein Staatspräsident am Festival von Sanremo teil - und hört sich von Roberto Benigni eine Laudatio auf die italienische Verfassung an. Das Festival der leichten Musik spaltet die Politik noch mehr als zuvor. Die Polemik ist groß.

Von Oliver Meiler, Rom

Was ist nicht schon alles passiert am Musikfestival von Sanremo, dem liebsten Volksfest der Italiener, große Emotionen und Provokationen, Unflätigkeiten und Sensationen. Es ist ja auch fast so alt wie die Republik, 72 Jahre schon. Doch es war noch Platz für eine Premiere, für einen "Tabubruch", wie es die Zeitung La Stampa nennt. Zum ersten Mal in der Geschichte von Sanremo war auch der Staatspräsident mal dabei: Sergio Mattarella saß am Dienstagabend zum Auftakt der 73. Ausgabe des Festivals in einer Ehrenloge des Teatro Ariston, ganz von rotem Samt umgeben, als wäre es ein Thron. Völlig überraschend war er da. Amadeus, der Moderator des Festivals, hatte den Besuch bis zuletzt sogar vor der Leitung der staatlichen Fernsehanstalt Rai verborgen, die den Event überträgt.

Es war, nun ja, ein Staatsgeheimnis. Mattarella war schon an der Premiere der Mailänder Scala gewesen, Genre und Rahmen der Oper schienen jeweils angemessen zu sein. Sanremo dagegen mutete immer etwas zu seicht an für das Amt. Nun aber schwingt sich das Festival der leichten Musik endgültig hoch zur politischen Bühne des Landes. Und spaltet die Politik noch mehr als zuvor. Das rechte Blatt La Verità titelt: "Es fehlte uns nur noch Mattarella in Sanremo." Und diese kleine Boshaftigkeit hat einen tieferen Beweggrund.

Benigni hält Italien eine "Lektion in Antifaschismus"

Der Präsident, so hört man, willigte nur deshalb ein, weil es da noch einen anderen geheimen Akt geben würde: Roberto Benigni. Der toskanische Schauspieler hat den Italienern über die Jahre hinweg schon quasipädagogisch Werke ihrer Größten nähergebracht, etwa Dante Alighieris "Divina Commedia". Nun trug er ihnen mit seinem unnachahmlich sturzbachartigen Sprachduktus eine Eloge über die italienische Verfassung vor, ja tatsächlich, über das Grundgesetz der Italiener, das gerade 75 Jahre alt geworden ist.

Zwanzig Minuten, im Crescendo. Benigni erinnerte daran, dass Italiens Verfassung im Antifaschismus geboren wurde, dass die Verfassungsgeber vom Traum eines neuen Italien getrieben waren. Artikel 21 sei von allen sein liebster, er handelt vom Recht auf Meinungsfreiheit. "Den haben sie geschrieben, weil es ihn brauchte", sagte Benigni. Denn vor der Verfassung, während der zwanzigjährigen Herrschaft des Faschismus, des "Ventennio", sei freies Denken nicht erlaubt gewesen. "Man hätte nicht einmal ein solches Festival veranstalten können, weil es nur ein Lied gab, immer dasselbe, die Propaganda: Man sang auf den Chef, den Duce, den Krieg, die Armee, die Partei, die Macht." Er schilderte dann noch etwas weiter, wie es war unter Benito Mussolini, wie Menschen für ihr Andersdenken verschwanden - für den Fall, dass man das vergisst oder beschönigt.

Und dann noch ein bisschen Rock'n'Roll-Attitüde

Die linke Presse sieht darin eine "Lektion in Antifaschismus", wie es La Repubblica schreibt, in Zeiten, da in Italien die Postfaschisten regieren. Benigni sage die Wahrheit über das "Ventennio", die von Ministerpräsidentin Giorgia Meloni verschwiegen würde. Für die rechte Verità, die Meloni gewogen ist, ist Benigni dagegen "der offizielle Hofnarr der Institutionen". Matteo Salvini, Melonis Regierungspartner von der rechtspopulistischen Lega, ließ alle wissen, die Verfassung müsse nicht in Sanremo verteidigt werden, das sei die falsche Bühne. Die Polemik ist wieder groß.

Wahrscheinlich wäre sie noch größer, wenn der römische Sänger Blanco, Vorjahressieger des Festivals, sich nicht mit einem furiosen Ausraster wahrscheinlich recht nachhaltig unbeliebt gemacht hätte: Er zerstörte mal schnell das Meer von Rosen, das sie für ihn auf die Bühne drapiert hatten, weil er, wie er später erklären sollte, auf seinem Ohrstöpsel seine Stimme nicht hören konnte. Ein bisschen Rock'n'Roll-Attitüde. Das Publikum im Saal pfiff, am Fernsehen schauten wieder fast elf Millionen zu, eine Superquote. Der Präsident war da aber zum Glück schon wieder weg - entflogen vom Thron, kaum war das Hohelied auf die Verfassung verklungen.

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