Museum am Genfer See:Charlie Chaplin lebt

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16 Jahre Arbeit, 55 Millionen Euro Kosten: Das neue Museum in der Villa des Komikers hat das Zeug zur Kultstätte. Ein Besuch vor der Eröffnung.

Von Martin Zips

Der schönste Weg vom Genfer See hinauf zu Charlie Chaplins alter Villa führt direkt an seinem Grab vorbei. Auf dem Friedhof haben einst zwei Räuber seinen Sarg gestohlen, nur wenige Monate nach der Beerdigung. 27 Mal telefonierten die Entführer wegen der Lösegeldübergabe mit Tochter Geraldine, dann wurden sie in einer Telefonzelle in Lausanne gefasst. Dicker Beton verhindert nun, dass Charlie und seine neben ihm ruhende Frau Oona abermals verschwinden.

Es ist ruhig an diesem Grab, ruhiger als im Städtchen Vevey am Ufer des Genfer Sees. Den "Leonardo der Filmkunst" nennen sie ihren einstigen Nachbarn hier. Restaurants heißen "Le Charlot" oder "Le Charly's", Schaufenster zeigen seine Filmplakate. Eine Chocolaterie verkauft essbare Tramp-Schuhe in Filmdosen. Moderne Zeiten. Ein paar Meter weiter, in den Weinbergen von Corsier-sur-Vevey, öffnet an diesem Wochenende ein einzigartiges Museum: "Chaplin's World". In der Villa Manoir de Ban, in der der Künstler mit seiner Frau und den gemeinsamen acht Kindern seine letzten 24 Jahre verbrachte.

Vor genau 16 Jahren klingelten der Schweizer Architekt Philippe Meylan und der kanadische Museumsmacher Yves Durand erstmals bei der Familie, besessen von der Idee eines zentralen Museums samt Chaplin-Archiv. Charlie war da schon lange tot, in der Weihnachtsnacht des Jahres 1977 entschlief er mit 88 Jahren in seinem Schlafzimmer. Seine vierte Ehefrau Oona, Tochter des Literaturnobelpreisträgers Eugene O'Neill, folgte ihm 14 Jahre später. Seitdem teilten sich die Söhne Michael und Eugene mit ihren Familien das Haus voller Erinnerungen.

Es hätte die Möglichkeit gegeben, das Chaplin-Museum in London oder Hollywood einzurichten. Doch die Söhne des Künstlers räumten das Manoir zu diesem Zweck. "Das ist der beste Ort", sagt Michael, 70. "Wir haben das so gemeinsam entschieden. Und unsere Familie ist streng demokratisch. Genauso demokratisch wie die Schweiz."

Gleich hinter der Leinwand: Die Bruchbude, in der Chaplin als Kind mit seiner Mutter lebte

Viele Probleme mussten überwunden werden. Umweltschützer, Denkmalschützer, die Nachbarn - alle hatten Einwände. Doch an diesem Samstag, an Chaplins 127. Geburtstag, werden die Flügeltüren des herrschaftlichen Hauses erstmals für die Öffentlichkeit aufgeklappt. Zunächst sind mehr als 120 Journalisten sowie Dutzende Gäste aus aller Welt geladen (die Süddeutsche Zeitung durfte vorher rein). Ab Sonntag ist dann für alle geöffnet.

Das durch die Gründung zweier Stiftungen sowie Investoren und Sponsoren ermöglichte 55 Millionen Euro teure Projekt kann, wenn es nach Direktor Jean-Pierre Pigeon geht, nur mit Elvis Presleys Graceland verglichen werden. Eine Kultstätte, nicht nur für Fans: "Wir haben schon mehr als 10 000 Kartenreservierungen." Tatsächlich gelingt es "Chaplin's World", nicht nur den Schauspieler, Komponisten unsterblicher Melodien, Regisseur und Mitgründer der Filmgesellschaft United Artists zu würdigen, sondern auch seine Bedeutung als eine der zentralen Figuren des 20. Jahrhunderts.

Winston Churchill, Albert Einstein, Mahatma Gandhi, Bertolt Brecht, George Bernard Shaw, Marlene Dietrich - sie alle gehörten zu Chaplins näherem oder weiterem Bekanntenkreis. In der blau getünchten Eingangshalle seines ehemaligen Anwesens findet sich der Tramp in der Interpretation zeitgenössischer Maler wie Marc Chagall, auch mit Picasso pflegte er Kontakt. Im Salon spielte Chaplins Lieblingspianistin Clara Haskil oft am Klavier, auch Sophia Loren, Graham Greene, Marlon Brando, Truman Capote, Jean Cocteau, Ian Fleming, Louis Malle und William Somerset Maugham waren zu Gast. Und Michael Jackson durfte nach Chaplins Tod sogar im Gästehaus übernachten, er war ein ebenso großer Chaplin-Bewunderer wie Woody Allen, Roberto Benigni oder Federico Fellini.

Die Tour beginnt in fünf dunklen Betonquadern, die man gleich neben der Villa errichtet hat. Nach einer kurzen filmischen Einführung hebt sich im großen Kinosaal die Leinwand, der Besucher ist eingeladen, durch sie hindurch die nachgebauten Londoner Slums zu betreten, in denen Chaplin und sein Bruder Sydney in bitterer Armut aufwuchsen. Jeder soll in die Bruchbude blicken, in der Chaplin mit seiner psychisch kranken Mutter lebte (und die er später als Kulisse für seinen Stummfilm "The Kid" nachbauen ließ). Als Varieté-Künstler gelangte er nach Amerika und unterschrieb mit 24 Jahren seinen ersten Vertrag in Hollywood. Bereits 1914 trat er erstmals im Tramp-Kostüm auf, welches ihn zeitweise zum wohl berühmtesten Mann der Welt machte. Überall, wo Chaplin in den kommenden Jahren auftauchte, drohte er von Menschenmassen in heftigster Zuneigung erdrückt zu werden.

Und dann steht man plötzlich in dem Raum, in dem Chaplin starb

Auf vielen Monitoren darf der Museumsbesucher nun Chaplins Spiel studieren, seine berühmtesten Szenen sind mit Wachsfiguren nachgestellt. So sitzt man plötzlich neben dem Blumenmädchen aus "Lichter der Großstadt", darf sich in der Holzhütte aus "Goldrausch" über dem Abgrund hin und her bewegen und im Friseursalon aus "Der große Diktator" Platz nehmen. Die Geburtstage von Chaplin (16. April 1889) und Hitler (20. April 1889) trennen ja nur wenige Stunden. Also rächte sich Chaplin, dessen Filme unter den Nazis nicht gezeigt werden durften (das Hetzblatt Stürmer nannte ihn "abnorm"), als "Adenoid Hynkel" an dem Mann, "der mir meinen Schnurrbart geklaut hat".

Chaplin kämpfte zeitlebens gegen Krieg und Ausbeutung, plädierte beharrlich für Humanismus und Pazifismus. "Es hat schon seinen Grund, warum wir heute noch von ihm reden, während viele andere Stars längst vergessen sind", sagt Museumsinitiator Philippe Durand.

Dass das FBI Charles Spencer Chaplin 1952 während dessen Reise zu einer Filmpremiere nach London die Rückkehr wegen "antiamerikanischer Umtriebe" verweigerte, setzte ihm zu. Chaplins Frauengeschichten (Oona war 36 Jahre jünger als er), seine Kritik an der US-Regierung und seine Weigerung, die britische Staatsbürgerschaft aufzugeben, wurden gegen ihn ausgespielt. Zudem soll Lenin einmal gesagt haben: "Chaplin ist der einzige Mensch, den ich wirklich gerne kennenlernen würde." Das war in der McCarthy-Ära auch nicht gerade förderlich. Nur einmal noch kehrte er in die USA zurück - für die Verleihung des Ehren-Oscars im Jahr 1972 hatte man ihm immerhin ein Zehn-Tages-Visum genehmigt.

Und so ist es schon sehr bewegend, durch seinen Garten zu spazieren, sich an seinen Schreibtisch zu setzen und im ehemaligen Schlafzimmer genau dort zu stehen, wo er und später auch Oona ihren letzten Atemzug machten. Seine Briefwechsel, seine Auszeichnungen, seine Musik - alles kommt ausführlich vor. Und dort, wo einst die zehnköpfige Familie speiste, wirft heute eine wächserne Oona wieder die Höhepunkte aus dem privaten Familienfilm-Archiv an die Wand.

"Farbfernseher fand mein Vater übrigens grauenhaft", sagt Sohn Michael. "Er hat immer nur Schwarz-Weiß geschaut."

© SZ vom 16.04.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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