Mütter, die Babys töten:Verheimlicht, verdrängt, verleugnet

Der Fall Sabine H.: Psychiaterin Anke Rohde über die Frage, wie mehrere Schwangerschaften unbemerkt bleiben können.

Heidrun Graupner

Sabine H. steht vor Gericht, weil sie neun ihrer 13 Kinder nach der Geburt sterben ließ und die Leichen in Blumenkästen vergrub. Eine unbegreifliche Tat. Unbegreiflich sind auch die Umstände, die dazu führten. Neunmal brachte die Angeklagte ihre Kinder angeblich heimlich zur Welt - weder der Ehemann noch enge Verwandte wollen etwas von den Schwangerschaften bemerkt haben. Wie ist das möglich? Die Süddeutsche Zeitung fragte Anke Rohde, Professorin für gynäkologische Psychosomatik am Zentrum für Geburtshilfe und Frauenheilkunde des Bonner Universitätsklinikums. Seit Jahren erforscht sie die psychische Situation von Frauen, die ihre Kinder getötet haben.

Sabine H. vor Gericht mit ihrem Anwalt

Sabine H. vor Gericht mit ihrem Anwalt

(Foto: Foto: AP)

SZ: Wie kann es geschehen, dass Mütter ihre Kinder töten?

Rohde: Die Tötung des eigenen Kindes geschieht in vielen Konstellationen. Eine zum Beispiel ist, dass die Schwangerschaft verheimlicht, verdrängt, verleugnet wird und die Geburt überraschend beginnt. Die Frauen töten manchmal in Panik oder in einer Art psychischen Ausnahmezustand das Kind oder setzen es aus.

SZ: Kann man denn - wie im Fall von Sabine H. - bei mehreren Schwangerschaften noch von einem psychischen Ausnahmezustand reden?

Rohde: Es ist vorgekommen, dass Mütter zwei oder drei Kinder getötet haben. Meist waren es verheiratete Frauen, die nicht in der Lage waren, eine vernünftige Verhütung zu betreiben und die in einer Situation lebten, zu der kein Kind passte. Dann wurde die Schwangerschaft verheimlicht, das Kind heimlich zur Welt gebracht, nicht versorgt und vielleicht getötet. Der Fall Sabine H. ist allerdings ungewöhnlich.

SZ: Frauen verheimlichen eine Schwangerschaft nicht nur, sie verdrängen sie auch. Wie ist das möglich?

Rohde: Manchmal kommen Frauen in eine Klinik, und dort wird festgestellt, dass sie hochschwanger sind. Das können Frauen sein, die Gewichtsprobleme haben. Oder die bei Zwischenblutungen denken, das sei ihre Periode. Es kann eine Frau sein, die nichts merkt, weil sie so desinteressiert an ihrem Körper ist.

SZ: Und die Angehörigen oder Nachbarn merken nichts, nicht einmal bei mehreren Schwangerschaften?

Rohde: Gerade wenn die Frau immer wieder rundlich ist, dann fällt das nicht auf. Der Unterschied wäre vielleicht viel größer, wenn sie in einem Jahr schwanger ist und dann nicht mehr.

SZ: Warum denken die Frauen nicht an eine Abtreibung?

Rohde: Wenn eine Frau ihre Schwangerschaft so verdrängt hat, dass sie es selber nicht weiß, dann kann sie nicht über die Abtreibung nachdenken. Das sind unter Umständen Frauen, für die das Thema Schwangerschaft so unmöglich ist, dass sie diese nicht wahrnehmen. Oder Frauen, die zwar wissen, dass sie schwanger sind und wissen, sie könnten sich den Beratungsschein holen, es aber nicht tun.

Verheimlicht, verdrängt, verleugnet

SZ: Warum?

Rohde: Zum Beispiel, weil sie Probleme nicht vernünftig lösen können. Sie sitzen da wie das Kaninchen vor der Schlange. Es gibt Menschen, die bringen Dinge nicht fertig, obwohl sie wissen, dass dies schlimme Konsequenzen hat.

SZ: Würde es etwas helfen, wenn Angehörige oder Nachbarn besser aufpassten?

Rohde: Ich weiß nicht, ob sich dadurch Kindestötungen verhindern ließen. Es würde aber dazu führen, dass eine Frau permanent Rechenschaft abgeben müsste, warum der Bauch ein bisschen dünner oder dicker ist. Ich denke an den Fall einer jungen Frau, die schwanger war und wo das Kind zu Tode gekommen ist. Ihre Mutter hat mehrmals gefragt: "Bist du schwanger, warum ist dein Bauch so dick?" Die Tochter hat empört reagiert und gesagt: "Warum fragst du mich ständig? Ich bin nicht schwanger, lass mich endlich in Ruhe." Was will man dann bei einer erwachsenen Tochter machen?

SZ: Aber es heißt, die Gesellschaft habe versagt. Brandenburgs Innenminister Schönbohm bezog den Fall Sabine H. gar auf Defizite der DDR-Gesellschaft.

Rohde: So leicht kann man es sich natürlich auch machen. Dass ein Mann an seiner Frau desinteressiert ist und ihr vermittelt, er wolle nicht für weitere Kinder verantwortlich sein, findet man hunderttausendfach in Deutschland. Warum das in diesem Fall so geendet hat, dass neun Kinder gestorben sind, das werden wir vielleicht nie herausbekommen.

SZ: Von vielen Seiten werden vehement Babyklappen gefordert, weil sie Kindestötungen verhindern könnten.

Rohde: All das, was man über die 20 bis 40 Fälle von Kindestötungen im Jahr weiß, genügt für die Feststellung: Diese Fälle erreicht die Babyklappe nicht. Frauen, die getötet haben, könnten sie nicht nutzen. Vielleicht sitzt die Mutter im Wohnzimmer und darf nicht hören, dass die Tochter ein Kind bekommt. Sie wird das Baby am Schreien hindern. Wenn die Frau nicht fähig ist, sich die Pille zu holen, wird sie auch nicht den Weg zur Babyklappe finden.

SZ: Ist die Babyklappe wenigstens ein Mittel gegen die Panik?

Rohde: Eine junge Frau hat zu mir gesagt: "Wie hätte ich darüber nachdenken können, ob ich mein Kind in die Babyklappe lege, wenn ich gar nicht wusste, dass ich schwanger war." Diese Frau hatte die Schwangerschaft festgestellt und dann so verdrängt, dass sie nichts mehr wusste. Das Leben der Kinder hängt an einem seidenen Faden.

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