Süddeutsche Zeitung

Mordserie:Als die Killer mit den Schrotflinten kamen

  • Eine der rätselhaftesten Verbrechensserien Europas könnte bald aufgeklärt werden.
  • Ein Informant hat in einem TV-Interview einen wahrscheinlich entscheidenden Hinweis auf eine Killerbande gegeben, die in den achtziger Jahren in Belgien 28 Menschen tötete.
  • Die Gruppe überfiel mehrere Geschäfte und agierte dabei äußerst brutal.

Von Thomas Kirchner, Brüssel

Spricht man ältere Belgier auf jene Zeit an, kommen immer die gleichen Sätze: "Wir hatten Angst, überhaupt noch vor die Tür zu gehen. Uns beschlich das Gefühl, dass etwas grundsätzlich falsch läuft. Es gingen schlimme Gerüchte um: Dass es Verbindungen nach ganz oben gibt, dass der Staat destabilisiert werden sollte, solche Sachen."

Es waren die Jahre 1982 bis 1985, als eine Killertruppe durch das Zentrum des Landes zog und mit abgesägten Jagdgewehren um sich schoss, in Geschäften, auf Parkplätzen von Supermärkten. 28 Menschen starben, 20 wurden verletzt. Wer die Täter waren, was sie eigentlich wollten, wurde nie bekannt. 32 Jahre später steht nun eine der grausamsten, aber auch rätselhaftesten Verbrechensserien Europas vielleicht vor der Aufklärung.

Am Samstag sendete der flämische Privatsender VTM ein Interview mit einem Informanten, der ohne Namen und Gesicht blieb. Er sei, sagte der Mann unter Tränen, der Bruder des "Riesen", der neben dem "Killer" und dem "alten Mann" zu den Anführern der "Bande von Nivelles" zählen soll, benannt nach einer Stadt 40 Kilometer südlich von Brüssel, die geografisch im Zentrum der Gewalttaten lag. Vor zweieinhalb Jahren, kurz vor seinem Tod, habe der Bruder ihm gebeichtet, zu der Bande gehört zu haben. Dass er wirklich der "Riese" sei, habe er nicht gesagt, nur ein paar Hinweise gegeben. Inzwischen sei er sich sicher. "Das war schwer zu fassen. Ich habe es zunächst ein bisschen verdrängt. Aber heute sage ich ganz formell: Das ist mein Bruder."

"C. B." oder "K. B.", wie seine Initialen lauten, war 1,90 Meter groß, daher der Spitzname. Er galt als Waffennarr, der gerne für Schießübungen in die Ardennen fuhr. Und er war Vizevorsitzender der "Tijlvrienden", einer Karnevalsgruppe in Dendermonde. Ein Foto zeigt ihn als Pirat verkleidet, die Ähnlichkeit mit dem Phantombild der Polizei verblüfft: der Schnurrbart, die spitze Nase, das eckige Brillengestell. Das mag auch erklären, dass die Täter bei ihren 16 Überfällen stets Faschingsmasken trugen.

Viel brisanter aber ist, dass C. B. in der Stadt Aalst Mitglied der Rijkswacht war, der inzwischen aufgelösten belgischen Gendarmerie, und in den Siebzigerjahren auch der "Gruppe Diane" angehörte, einem Spezialkommando, das nach der Geiselnahme bei den Olympischen Spielen 1972 gegründet wurde. Die dort erworbenen praktischen Kenntnisse scheinen bei den Mordtaten nützlich gewesen zu sein.

Die Bande ging äußerst kaltblütig und mit militärischer Präzision vor. Sie stürmte Lebensmittel-, Waffen-, Textil- und Juwelierläden, nahm mal Geld, Gewehre oder auch nur Wein, Champagner oder Pralinen mit. Wer im Weg stand, wurde abgeknallt, manchmal traf es auch völlig Unbeteiligte oder am Boden Kauernde. Die Menschen in der damaligen Provinz Brabant waren traumatisiert, trauten sich kaum noch, einkaufen zu gehen. Im Winter 1983 brach die Mordserie ab, knapp zwei Jahre später ging sie weiter und endete schließlich mit einem Massaker im Delhaize-Markt in Aalst, bei dem acht Menschen ums Leben kamen.

Ein Opferanwalt sagt, er habe der Justiz längst die Namen der Täter genannt

Warum die Morde danach aufhörten, ist nicht bekannt. Spekuliert wird, dass die Polizei einen der Anführer nach dem letzten Überfall tödlich verletzte. Die Ermittlungen kamen in der Folge nicht voran, einem Untersuchungsrichter wurde unter windigen Umständen das Dossier entzogen. In den Medien wurde diskutiert, dass staatliche Stellen die Mörder womöglich schützten. Andere mysteriöse Verbrechen erschütterten Belgien: 1991 der nie aufgeklärte Mord an dem Spitzenpolitiker André Cools, 1995 die ungeheuerlichen Kindesmisshandlungen und Morde durch Marc Dutroux und seine Frau. Auch hier war jeweils von Protektion auf höchster Ebene die Rede, die Verunsicherung der Bürger wuchs.

Die Überfälle in der Provinz Brabant nährten mangels klaren Motivs Verschwörungstheorien. Ein Zusammenhang mit den "Rosa Balletten" wurde konstruiert, Sexpartys von Mitgliedern der belgischen High Society mit Minderjährigen. Bezüge zur Mafia und zum Waffenhandel ließen sich erkennen. Am glaubwürdigsten war der Verdacht, dass die Täter aus dem Inneren der belgischen Sicherheitsdienste stammten und öffentliche Unruhe provozieren wollten, um rechtsnationalistische Kräfte an die Regierung zu bringen. Diese Theorie könnte sich nun bewahrheiten. Verjähren werden die Taten erst 2025.

In dieser Woche befragten Polizisten Passanten in Dendermonde, mit einem Bild von C. B. in der Hand. Schon 1999 soll dessen Name in Ermittlungsakten aufgetaucht sein. Ein Opferanwalt behauptet, seit Längerem zu wissen, wer zu der Bande gehöre, und der Justiz entsprechende Hinweise gegeben zu haben. Sie seien aber nicht weiterverfolgt worden. Seinen Verdacht teilen viele Belgier: dass schützende Hände eingegriffen haben, wer und wo auch immer.

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Quelle:
SZ vom 23.10.2017/olkl
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