Mordprozess gegen Oscar Pistorius:Masipas Glaubensfrage

Oscar Pistorius

Am 11. September wird Richterin Masipa ihr Urteil über Oscar Pistorius sprechen.

(Foto: AP)

41 Tage lang haben Verteidigung und Staatsanwaltschaft im Fall Pistorius ihre Versionen der Wahrheit dargelegt. Wenn Richterin Thokozile Masipa nun entscheidet, welche stimmt, muss sie sich am Ende auf ihre eigene Überzeugung verlassen.

Von Lena Jakat

Hat Oscar Pistorius seine Freundin Reeva Steenkamp absichtlich erschossen? Nach 41 Verhandlungstagen im Gauteng High Court von Pretoria lautet die zentrale Frage im Fall des Ausnahmeathleten aus Südafrika noch immer genauso wie zu Beginn des Prozesses am 3. März . Doch deren Bedeutung hat sich grundlegend verändert.

Am Anfang waren da zwei Wahrheiten: Zum einen die der Staatsanwaltschaft. Derzufolge ist der Angeklagte ein waffenverrückter Choleriker, ein ehrgeiziger, egoistischer Mann. Der es nicht erträgt, wenn sich die Dinge anders als nach seiner Vorstellung entwickeln. Der seine Freundin am Vorabend des Valentinstags 2013 nach einem Streit kaltblütig ermordete. Diese Warhheit stützte sich auf die Aussagen von Nachbarn, von Bekannten des Angeklagten, von Ermittlern und Kriminaltechnikern.

Die Plädoyers

Oscar Pistorius ist wegen Mordes zu verurteilen: Das Plädoyer der Staatsanwaltschaft zum Nachlesen.

Oscar Pistorius ist freizusprechen: Das Schlusswort der Verteidigung finden Sie hier.

Und zum anderen war da die Wahrheit des Angeklagten. Demnach leidet der beidseitig beinamputierte Sportler an einer tiefsitzenden Furcht vor Gewalt und Einbrechern. Seine Freundin Reeva Steenkamp, die er innig liebte, erschoss er in Folge einer Verkettung tragischer Umstände - versehentlich, weil er sie für einen Einbrecher hielt. Auch diese Wahrheit hatte ihre Zeugen. Nicht zuletzt den 27-jährigen Pistorius selbst, der während seiner Aussagen immer wieder unter Tränen zusammenbrach, den Schilderungen und Bilder der Tatnacht wiederholt erbrechen ließen.

So akribisch wie energisch haben Staatsanwalt Gerrie Nel und Chefverteidiger Barry Roux in den vergangenen Tagen ihre Plädoyers vorgetragen, "Pitbull" Nel und "Rottweiler" Roux sind ihren Spitznamen gerecht geworden. Sie haben gekläfft, geknurrt und die Zähne gefletscht. Die Verteidigung will einen Freispruch erwirken, die Anklage ein Urteil wegen Mordes. Pistorius habe sich des Mordes an einer wehrlosen Person schuldig gemacht - egal, ob er Steenkamp oder einen unbekannten Eindringling in seiner Toilette vermutete. Als er die vier Schüsse abgab, habe er mit deren tödlicher Folge rechnen müssen.

Die Frage vom Anfang klingt damit völlig anders, der "Absicht" kommt eine gänzlich neue Bedeutung zu.

Die gesamte Beweisführung, die sich auf das Paar und seine Beziehung konzentrierte, ist damit außen vor. Hatte Pistorius sich in früheren Beziehungen schon reizbar gezeigt? Egal. Lässt sich aus Steenkamps Whatsapp-Nachrichten ablesen, dass sie unglücklich war, dass sie sich vor ihrem Freund fürchtete? Egal.

Dasselbe gilt für all die Beweise und Aussagen zur Tatnacht selbst: Deutet Steenkamps Mageninhalt darauf hin, dass sie nicht - wie Pistorius beteuert - früh zu Bett ging? Egal. Warum nahm Steenkamp ihr Handy mit zur Toilette? Egal. Hörten Nachbarn Schreie einer Frau, was einen Streit bestätigen würde? Egal. Widerlegt das vieldiskutierte Tatortfoto Nummer 55 Pistorius' Schilderung, er sei in der Nacht auf den Balkon getreten? Egal.

Wenn es keine Rolle mehr spielt, wen der Angeklagte erschossen hat, ist all das unwichtig, irrelevant, nur noch indirekt von Belang - mit Blick auf die Persönlichkeit des Schützen.

Drei Lesarten, vier mögliche Urteile

"Am Ende entscheiden einige Sekunden im Leben des Angeklagten", brachte es Verteidiger Roux am Freitag auf den Punkt. Jene Momente, in denen Oscar Pistorius mit gezückter Neunmillimeter-Pistole am Ende des Flurs steht, der zu Badezimmer führt. Er trägt keine Prothesen, steht wackelig auf seinen Beinstümpfen, sucht Halt an der Wand des Flurs. Er verhält sich still, sein Blick wandert zwischen dem geöffneten Badfenster und der geschlossenen Toilettentür hin und her. Ein Geräusch. Dann fallen vier Schüsse.

Verteidigung und Staatsanwaltschaft haben Richterin Thokozile Masipa in ihren Plädoyers drei mögliche Interpretationen dieser entscheidenden Momente angeboten:

  • 1. Pistorius handelte unbewusst, im Affekt. Er schoss völlig automatisiert, reflexhaft aufgrund tiefsitzender Ängste, die sich über Jahre angestaut hatten. Darauf beharrt die Verteidigung, die ihn vom Mordvorwurf freigesprochen sehen will.
  • 2. Pistorius handelte vernünftig. Falls das Gericht zur Überzeugung gelange, der Angeklagte habe bewusst geschossen, sagt sein Verteidiger, sei dieses Verhalten in dieser Situation rational, die Schüsse Notwehr gewesen.
  • 3. Pistorius handelte vorsätzlich. Die Anklage bemüht hier den Rechtsgrundsatz des dolus eventualis. Dieser besagt, dass ein Täter die Folgen seines Handelns in Kauf nimmt. Der Angeklagte musste damit rechnen, dass die Person in der Toilette an den Schüssen sterben würde. Auf Basis dieser Argumentation fordert die Staatsanwaltschaft eine Verurteilung wegen Mordes.

Wenn Richterin Thokozile Masipa die kommenden vier Wochen nun nutzt, um sich ein Urteil zu bilden, muss sie diese Optionen gegeneinander abwägen. Viele Beweise und Aussagen aus dem Prozess fallen als Entscheidungshilfe weg. Sie muss sich allein auf ihre Meinung über den Angeklagten verlassen, die sie in 41 Verhandlungstagen gewonnen hat, durch eigene Beobachtung, durch Gutachten und Zeugenaussagen

Masipa hat sich während des gesamten Prozesses nichts anmerken lassen, hat das Verfahren fast ohne eigene Wortmeldungen geführt, hat die Abläufe ruhig und zurückgenommen gelenkt. Kein Prozessbeobachter traut sich zu spekulieren, in welche Richtung die 66-Jährige tendiert. Verurteilt sie Pistorius wegen Mordes (premeditated murder), muss er für 25 Jahre ins Gefängnis. Verurteilt sie ihn wegen Totschlags (murder without premeditation) oder fahrlässiger Tötung (culpable homicide) könnte er mit einer deutlich geringeren Strafe, ja sogar mit einer Bewährungsstrafe davonkommen.

Am Ende seines Plädoyers lachte Verteidiger Roux, er wirkte ebenso zuversichtlich wie Pistorius und seine Familie, die den Prozess im Saal verfolgt hatte. Sie hoffen, sagen Beobachter vor Ort, auf eine Verurteilung wegen fahrlässiger Tötung.

Am 11. September um 9.30 Uhr will die Richterin ihr Urteil verkünden.

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