Mord in Frankreich erinnert an alten Kriminalfall:Die rätselhafte Affäre Dominici

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Es ist nicht allein die Brutalität des Vierfachmordes an einer britischen Familie, die Frankreich schockiert; die Tat ruft auch Erinnerungen an einen alten Fall wach. Im Sommer 1952 wurde schon einmal eine Urlauberfamilie aus England ermordet aufgefunden. Der Fall gibt bis heute Rätsel auf.

Lena Jakat

Frankreich reagiert auf den brutalen Vierfachmord an einer britischen Familie so, wie in England auf eine Mordserie an Prostituierten reagiert würde. Wie auf der Insel bei solchen Fällen immer gleich die Geschichte von Jack the Ripper, der 1888 im Londoner East End mindestens fünf Huren tötete, mitschwingt, ruft auch das Verbrechen in Frankreich Erinnerungen an eine längst vergangene Tat wach, eine Tat, in der Fakten und Fiktion längst verschwommen sind: Die Affäre Dominici. Sie nahm vor ziemlich genau 60 Jahren ihren Anfang, als drei Leichen neben einem Wagen entdeckt wurden, eine britische Urlauberfamilie.

Am 16. November 1953 wird Gaston Dominici (mitte), Hauptverdächtiger im Fall des Vierfachmordes an einer englischen Familie, an den Tatort gebracht. Begleitet wird er von Polizisten und Journalisten. (Foto: AFP)

Am Abend des 4. August 1952 schicken sich Sir Jack Drummond, ein englischer Ernährungswissenschaftler von beachtlichem Renommee an, seine Frau Ann und seine zehn Jahre alte Tochter Elizabeth, die Nacht unter dem sommerlichen Sternenhimmel zu verbringen. In den frühen Morgenstunden wird Sir Jacks Leiche unter einer umgekippten Campingliege gefunden, zwei Kugeln in seinem Rücken. Lady Anns Leiche liegt in eine Decke gewickelt, in der Nähe des grünen Hillman-Autos der Familie. Das Mädchen liegt ein Stückchen entfernt, ihm wurde mit einem Gewehrkolben der Schädel eingeschlagen.

Anders als viele spektakuläre Fälle der Kriminalgeschichte wurde der Mord an den Drummonds offiziell zwar aufgeklärt, ein Täter wurde ermittelt und verurteilt - doch war die Beweislage so vage, dass sie genug Platz ließ für Spekulationen, die längst zu Mythen geworden sind. Der Fall inspirierte unter anderem Orson Welles, einen Kinofilm mit Gérard Depardieu 1973, einen TV-Film und einen Comic, der erst 2010 erschien.

Unweit des Tatorts im Durance-Tal, keine 200 Meter entfernt, lag der Bauernhof "Große Erde". Dort lebte die Familie Dominici, Landwirte piemontesischer Herkunft, des Französischen kaum mächtig und eher schlichten Gemüts - oder, wie es zum Prozess 1954 ein Spiegel-Autor formulierte: das "unbekannte, schweigende, archaische Frankreich der Provinz" im Gegensatz zur "lichter- und geistsprühenden Hauptstadt Paris" .

Schnell stand für die Ermittler fest: Das 76-jährige Familienoberhaupt Gaston Dominici hat die englische Familie ermordet. Zwei Jahre nach der Tat wurde er vor Gericht gestellt. Ein Geständnis des alten Mannes, wonach er Ann Drummond Avancen gemacht, dabei von ihrem Gatten überrascht worden sei und kurzerhand die Familie ausgelöscht hatte, widerrief der Angeklagte zwar, doch stützten in den Augen der Staatsanwaltschaft die verworrenen Schilderungen und gegenseitigen Anschuldigungen der Familienmitglieder die These seiner Schuld.

"Ein König, den die Langeweile gefährlich macht"

Neben Gaston Dominici waren da noch seine ihm ergebene Gattin und die unterdrückten Söhne Gustave und Clovis. Der französische Schriftsteller Jean Giono verfolgte den Prozess gegen Dominici vor dem Gericht von Digne und notierte dem Nachrichtenmagazin Le Nouvel Observateur zufolge über den greisen Angeklagten: "Er ist ein König, aber ein König ohne Zerstreuung, den die Langeweile gefährlich macht."

An seinem despotischen Auftreten bestand kaum Zweifel, wohl aber daran, dass der Mann die ihm angelasteten Taten überhaupt begangen hat. Im Schlussplädoyer war nur mehr von einem "halben Unfall" die Rede. Nichtsdestotrotz verurteilten ihn die sieben Geschworenen und drei Richter am 28. November 1954 einstimmig zum Tod durch die Guillotine. Drei Jahre später wurde er von Charles de Gaulle begnadigt, drei weitere Jahre später entlassen. 1965 starb Gaston Dominici in einem Altersheim.

Alternative Theorien über die Hintergründe der ermordeten Briten kursieren seit Jahrzehnten: Dominici habe einen seiner Söhne schützen wollen, ist dabei noch die konventionellste Annahme. In anderen Varianten der Geschichte war Sir Drummonds ein britischer Geheimagent, der sich in Frankreich wahlweise mit früheren Verbündeten in der französischen Résistance überworfen hatte oder dort von sowjetischen Spionen getötet worden war.

Drummond und seine Familie nahmen diese Wahrheit mit ins Grab. Dieses kann der kriminologisch interessierte Frankreich-Besucher auf dem Friedhof von Forcalquier im Départment Alpes-de-Haute-Provence noch heute besuchen.

60 Jahre nach dem Tod der britischen Familie wird knapp 300 Kilometer weiter nördlich, in den französischen Alpen, wieder eine Urlauberfamilie aus England, Vater, Mutter und eine Tante oder Großmutter, ermordet aufgefunden. Die vier und sieben Jahre alten Töchter überleben das Massaker; das kleine Mädchen kauert stundenlang unter der Leiche der Mutter, bevor sie von Polizisten entdeckt wird. Die Hintergründe der Tat sind noch völlig unklar.

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