Mord an Meredith Kercher:Die Verwandlung der Amanda Knox

Amanda Knox speaks to Diane Sawyer in New York

Amanda Knox im Interview mit Diane Sawyer vom US-Sender ABC. Sie beteuert in dem Interview ihre Unschuld.

(Foto: REUTERS)

Ein Mord, ein Buch, ein Interview: Amanda Knox beschreibt sich als Opfer von Polizei, Justiz und Medien. Doch trotz der vielen Erklärungen bleibt der Mordfall, für den Knox erst verurteilt und dann freigesprochen wurde, ein großes Rätsel.

Von Marc Hoch

Da sitzt sie: Amanda Marie Knox. Sie ist immer noch sehr jung, gerade einmal 25, und doch haben sich in ihrem Gesicht nach vier Jahren im Gefängnis Härte und Züge von Misstrauen eingenistet. Seit ihrem spektakulären Freispruch im Oktober 2011 ist sie nicht mehr öffentlich aufgetreten. Sie hat im Stillen an ihrem Buch gearbeitet, das seit Dienstag auf dem Markt ist. Und nun sitzt sie beim US-Sender ABC beim ersten großen TV-Interview überhaupt und erklärt, dass das, "was mir passierte, surreal war, aber es hätte jedem widerfahren können". Wirklich jedem?

Wer sich an die junge Frau erinnert, die im Dezember 2009 zu 26 Jahren Haft wegen Mordes an ihrer Mitbewohnerin Meredith Kercher verurteilt wurde, der sieht nun eine völlig andere Amanda Knox. Sie wirkt wesentlich reifer als früher; ihre unbekümmerte naive Art, die sie in der Anfangszeit des Prozesses zum Star der Boulevardpresse werden ließ, ist einer konzentrierten Selbstkontrolle gewichen. Nur manchmal schluckt sie, wenn sie auf das Bild angesprochen wird, das die Medien, aber auch die Staatsanwälte von ihr gezeichnet haben: dass sie eine Frau mit dem Gesicht einer Heiligen und der Seele eines Teufels sei. Dann kämpft sie mit den Tränen und sagt: "Ich würde gerne wieder als Mensch angesehen werden."

Wohl kaum jemand, der Amanda Knox zum ersten Mal in diesem TV-Interview sieht, dürfte diese so kontrolliert wirkende Frau mit dem furchtbaren Sexual-Mord an Meredith Kercher vom 1. November 2007 in Verbindung bringen. Und auch ihr Buch "Zeit, gehört zu werden" ist eine persönliche, stellenweise hoch emotionale Unschuldsbekundung auf 475 Seiten, die für den Leser, der von dem Fall noch nie etwas gehört hat, nur einen einzigen Schluss zulässt: Dieser jungen Amerikanerin, die mit 20 nach Perugia kam, um Italienisch zu lernen, ist übel mitgespielt worden.

Ehrgeizige Staatsanwälte, schlampig ermittelnde Polizeibeamte, ein bizarres Justizsystem, die Vorverurteilung durch die Medien - all diese Faktoren, so schildert es Knox und so will sie verstanden werden, hätten "trotz meiner Unschuld" zum Schuldspruch geführt. "Niedergestreckt von den Worten, konnte ich nicht mehr stehen", schreibt sie über diese folgenschwere Entscheidung. "Ich war eine verurteilte Mörderin. Ich war weniger als nichts. . . Die Staatsanwaltschaft hatte erfolgreich dafür gesorgt, dass ich für etwas verurteilt worden war, was ich nicht getan hatte." Tatsächlich nicht?

Amanda Knox vernichtet eine Existenz

Die italienischen Ermittler sehen schon zwei Tage nach der Tat sie und ihren Freund Raffaele Sollecito als Hauptverdächtige an. Knox, die mit Kercher Tür an Tür in einer WG wohnt, rückt sich durch verwirrende Aussagen selbst ins Zentrum des Verdachts. Zunächst gibt sie an, die Nacht bei ihrem Freund verbracht zu haben. Doch dann, in der Nacht vom 5. auf den 6. November, ändert sie ihre Version und sie sagt nun aus, dass sie sich mit dem Inhaber einer Bar getroffen habe, den sie sogleich schwer beschuldigt: "Wir trafen uns gegen neun Uhr abends. Wir gingen zu meinem Haus. Ich weiß nicht mehr genau, ob meine Freundin Meredith bereits im Haus war oder ob sie nach uns kam, aber ich kann sagen, dass sie mit Patrick in ihrem Zimmer verschwand, während ich in der Küche blieb. (. . .) Ich hörte Meredith schreien, und ich hatte Angst und hielt mir die Ohren zu."

Diese Falschaussage unterzeichnet sie nachts, und sie vernichtet damit die Existenz des Barbesitzers Patrick Lumumba, der völlig zu Unrecht in Untersuchungshaft landet. Seit jeher hat diese Aussage das weltweite Misstrauen gegen Amanda Knox geschürt; seit jeher ist diese Stellungnahme als schlagender Beweis für ihre Unehrlichkeit und Durchtriebenheit bewertet worden, als gezieltes Manöver, um von ihrer Schuld abzulenken. Sie wird ihr selbst zum Verhängnis, denn noch in derselben Nacht wird sie verhaftet.

In ihrem Buch versucht sie die Umstände ihrer Aussage zu erklären. Mehrmals schildert sie die Befragung durch die "beinharten" und "aggressiven" Polizisten, die sie gar geschlagen haben sollen. "Stundenlang brüllten sie mich an, um mich zu zermürben. (. . .) Ich war so verwirrt, dass ich mir im Kopf Bilder zurechtlegte, die mit dem von den Ermittlern erdachten Szenario, das sie mir eintrichterten, übereinstimmten." Sie habe nicht mehr gewusst, was real war und was sie sich einbildete, sie sei wie gehirngewaschen gewesen, das Geständnis erzwungen: "In diesem Moment hakte es bei mir aus."

26 Jahre Haft, ein Schock für die junge Frau

Was für sie folgt, ist die Untersuchungshaft und die Härte des Alltags im Frauengefängnis von Capanne. Der stellvertretende Anstaltsleiter soll sich ihr mit sexuellen Absichten genähert haben: "Passen Sie auf, was Sie essen. Sie haben ganz reizende Kurven und die wollen Sie sich ja nicht versauen." Auch Mitgefangene wollen angeblich Sex mit ihr. "Am Ende nahm ich hin, das ich in Capanne meine einzige Freundin war. Ich zog mich in meine Gedankenwelt zurück."

Nach ihrer Verurteilung zu 26 Jahren Haft wird sie als suizidgefährdet eingestuft. Die Absätze im Buch, die sich mit dem Strafmaß befassen, beschreiben die Hoffnungslosigkeit einer jungen Studentin, die sich um ihr beginnendes Leben betrogen sieht: "Ich erinnerte mich an eine Flasche Whiskey, auf der Aged Twenty-Five Years stand. Aber an 26 Jahre Haft hatte ich noch nie gedacht. Das war ein Jahr älter als der Whiskey und vier Jahre älter als ich. Wenn ich aus dem Gefängnis kam, würde ich 48 sein, ein Jahr älter als meine Mutter am Tag der Urteilsverkündung. 26 Jahre waren dreizehnmal so lang, wie ich bisher im Gefängnis gesessen hatte. (. . .) Ich weinte, bis ich zu ersticken glaubte." Sind das alles nur Phantasien? Oder der Versuch eines Justizopfers, ein Trauma zu bewältigen? Was ist die Wahrheit?

Wie starb Meredith Kercher?

Vor einem Jahr hat John Kercher, der Vater der Ermordeten, ein nicht minder bewegendes Buch geschrieben. Er hat an das Schicksal seiner Tochter erinnert, deren Leiche mit Schnittwunden und Prellungen halbnackt am Mittag des 2. November unter einer Bettdecke in ihrem Zimmer aufgefunden worden war. Ihr Tod war ein Martyrium, und sie ist unzweifelhaft Opfer einer sexuellen Attacke geworden, die mit hoher Wahrscheinlichkeit mehrere Täter verübt haben - unter Vorspiegelung eines Einbruchs.

Kein Gericht hat bis heute schlüssig die letzten Momente von Meredith Kercher geklärt. Die Spurenlage ist so diffus, dass selbst der Freispruch-Richter, der das 400 Seiten starke Hypothesen-Gebäude des Schuldspruchs zertrümmerte, nach dem Urteil eingestand: "Die richtige Wahrheit kann anders sein. Sie könnten verantwortlich sein, aber die Beweise fehlen."

Fest steht, dass Amanda Knox für die Tatnacht kein stichhaltiges Alibi hat, und in diesem Punkt ist ihr ausuferndes Buch recht schmallippig. Fest steht aber auch, dass sie den einzigen bisher verurteilten Täter, Rudy Guede, kaum kannte. Von ihm wurden blutige Fingerabdrücke am Tatort gefunden. Doch zwischen Amanda Knox und ihm bestanden keine Kontakte: Wie hätten sie sich für ein Verbrechen zusammenfinden können?

Nach der Aufhebung des Freispruchs im März wird der Fall noch einmal verhandelt. Viel spricht dafür, dass John Kerchers Befürchtungen eintreffen werden: "Vielleicht werden wir die Wahrheit nie erfahren."

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: