Mord an Heilbronner Polizistin:Blutspuren einer Unsichtbaren

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Dank der DNS-Analyse suchen die Ermittler nun eine geheimnisvolle Serientäterin - sie wissen so viel über diese Frau und können sie doch nicht finden

Bernd Dörries

Wenn Volker Rittenauer in den vergangenen Wochen mit dem Auto durch die Heilbronner Innenstadt fuhr, dachte er oft, die Frau dort drüben, die könnte es doch sein. Kleidung, Alter, Blick - so hat er sie taxiert, aber angehalten hat er nie. Er weiß viel über die Frau, die er und die vielen anderen Polizisten suchen. Er kennt ihr Blut und ihren Speichel, ihre DNS, ihren genetischen Bauplan.

Gesucht wird nach einer Frau, die in den vergangenen 14 Jahren mit mindestens 22 Verbrechen in Verbindung gebracht wird, mit drei Morden und mit Diebstählen. (Foto: Foto: dpa)

Normalerweise ist das eine ziemlich gute Basis, die Wahrscheinlichkeit, dass zwei Menschen dasselbe DNS-Muster haben, liegt bei eins zu mehreren Milliarden. Es klingt nach einer sicheren Sache. Rittenauer aber könnte verzweifeln: So nah dran und doch weit weg. Er fährt mit dem Auto durch Heilbronn und schaut Frauen hinterher. Er hat einen Gencode, eine lange Zahlenreihe, aber sie ergeben kein Bild, keine Augen, keine Haare, kein Gesicht.

Rittenauer, 51, ist Leiter der Heilbronner Kriminalpolizei, und er sucht nach einem Phantom. Nach einer Frau, die in den vergangenen 14 Jahren mit mindestens 22 Verbrechen in Verbindung gebracht wird, mit drei Morden und mit Diebstählen. In Deutschland, Österreich und Frankreich. Vor zehn Jahren wären es lauter Einzeltaten geblieben, man hätte den Einbruch in einem Schrebergarten in Österreich kaum mit dem Mord an einer Polizistin in Heilbronn in Verbindung gebracht. Zu einer Serientäterin wurde die Frau erst im DNS-Zeitalter.

Das Klebeband gibt Auskunft

Heute suchen fünf Staatsanwaltschaften und mehrere Sonderkommissionen nach ihr. Manchmal dachten die Verfolger, sie wären ihr auf den Fersen. Aber nach 14 Jahren hat die Frau noch immer kein Gesicht, kann Volker Rittenauer nur sagen, dass er "nichts ausschließen kann". Und dies ist ein Satz, den man von allen Ermittlern hört, wenn man sich zu den Orten der Verbrechen begibt, nach Idar-Oberstein in Rheinland-Pfalz, nach Freiburg und Heilbronn, nach Linz in Oberösterreich.

Rittenauer sitzt im Besprechungszimmer der Heilbronner Polizei, hinter ihm hängt ein großer Plan an der Wand mit vielen Pfeilen, die Struktur der "Sonderkommission Parkplatz" mit etwa fünfzig Beamten. Daneben ein Luftbild, das einen Polizeiwagen mit zwei offenen Türen zeigt, Blutflecken sind zu sehen. Es ist eine Aufnahme vom 25. April 2007, dem Tag als der Bereitschaftspolizistin Michèle Kiesewetter und ihrem Kollegen in den Kopf geschossen wurde. Die 22-Jährige war sofort tot.

Die beiden haben gerade Mittagspause gemacht, den Wagen auf der Heilbronner Festwiese geparkt. Die Täter sind wahrscheinlich von hinten gekommen, haben den beiden in den Kopf geschossen und dann ihre Waffen entwendet. Es gab keinen Notruf. Eine gezielte Hinrichtung. Fast 1200 Hinweise sind bis heute bei der Polizei eingegangen, eine heiße Spur ist nicht dabei. Es fehlt das Motiv für die Tat. Ein Racheakt könnte es sein, weil die Polizei im vorigen Jahr das Drogenmilieu der Stadt ausgehoben hat. Die Ermittler befragen Dealer, überprüfen Alibis. Nichts. Ein großes Rätsel.

Im Hinterhof der Polizeidirektion Heilbronn steht der 5-er BMW der beiden Beamten. Fünf Wochen lang haben Kriminaltechniker Klebeband über den Lack gelegt und abgezogen. Immer wieder, bis sie Anfang Juni schließlich eine Spur fanden, eine winzig kleine, die zu einer großen Serie von Verbrechen führt. Auf einmal gibt es einen Zusammenhang. Die Polizei spricht von einem "Durchbruch", steht aber doch vor einem Rätsel.

Der Saarring in Idar-Oberstein ist eine kleine Straße mit Bäumen und Mauern aus Bruchstein, der in den Hügeln der Umgebung abgebaut wird. Eine Siedlung von Genossenschaftshäusern, etwas versteckt gelegen, am Rande der US-Militärbasis, wo vor vielen Jahren Bruce Willis geboren wurde. Dafür war Idar-Oberstein bekannt. Der Saarring ist nun aber auch der Ort, an dem die Serie der Verbrechen beginnt.

"Vertretertyp mit Bodybuilderstatur"

Am 26. Mai 1993 finden Polizisten im Erdgeschoss der Hausnummer 4 die Rentnerin Liselotte Schlenger, erdrosselt mit einem Blumendraht. "Die Tat war von einer solchen Brutalität, dass zuerst gar nicht an eine Frau als Täterin gedacht wurde", sagt Klaus Appel. Der 51-jährige Kriminalhauptkommissar sitzt in seinem Arbeitszimmer in Idar-Oberstein, hinter ihm, neben ihm und auf dem Flur stehen etwa 200 Ordner mit Ermittlungsakten in den Regalen.

Nach dem Mord habe man am Tatort keinerlei Spuren gefunden, sagt Appel, nur drei Gläser auf dem Küchentisch, und eine Flasche Sprudel. Das einzige, mit dem die Ermittler arbeiten konnten, war die Aussage einer Nachbarin, die einen "Vertretertyp" gesehen haben will, mit einem Pilotenkoffer und Bodybuilderstatur. Aber nach vier Jahren Ermittlungen gab es keinen Hinweis mehr, dem man noch nachgehen konnte.

Ein Jahr später aber begannt das Bundeskriminalamt mit dem Aufbau einer bundesweiten DNS-Datenbank, Staatsanwaltschaften im ganzen Land fingen an, in ungelösten Fällen nach neuen Spuren zu suchen, zuerst bei den Kapitalverbrechen. In Idar-Oberstein holten die Ermittler 2001 eine Tasse aus dem Archiv, an der sie Speichel fanden, der nicht vom Opfer stammt. Das DNS-Material wurde in die Datenbank eingegeben. Der mutmaßliche Täter war auf einmal eine Frau. Und es war nicht ihre einzige Tat.

Die Spur führte nach Freiburg. Nachbarn beschreiben den Frührentner Josef Walzenbach als freundlich, aber zurückgezogen. Dennoch ließ er am 26. März 2001 jemanden in seine Wohnung und bot Getränke an. Der Gast schlug mit einem unbekannten Gegenstand so lange auf den Kopf von Walzenbach ein, bis der Schädel brach, anschließend erwürgte er das Opfer. An einem Glas fand die Polizei die Spuren einer Frau. "Sie ist eine gute Spurenlegerin", sagt Bruno Bösch, 53, Kriminalhauptkommissar in Freiburg. Auch er sitzt in einem Zimmer mit lauter Ermittlungsakten. Mehr als 3000 Hinweisen ist er zusammen mit den Kollegen aus Idar-Oberstein nachgegangen.

Oder eine Transsexuelle?

Die Suche nach dem genetischen Fingerabdruck ist bei schweren Verbrechen mittlerweile zur gängigen Praxis geworden. Es hängt aber immer vom ermittelnden Beamten ab, welche Spuren er zur Untersuchung weitergibt. In der Nähe von Mainz wurde in einem aufgebrochenen Wohnwagen selbst ein angebissener Keks ins Labor geschickt - und es fand sich darauf die Spur der Gesuchten. Der Computer wird so zum Chefermittler, gleicht die Eingaben mit den Beständen ab, eine halbe Million DNS-Muster sind heute in der zentralen Datei des Bundeskriminalamts gespeichert.

Auf einem Autobahnparkplatz in der Eifel verletzte sich Ende des Jahres 2001 ein Kind an einer Einwegspritze, die Eltern lassen die Spitze untersuchen, wollen wissen, ob sich ihr Kind mit Hepatitis oder Aids infiziert haben könnte. Erreger sind keine an der Spritze, dafür aber die DNS der gesuchten Frau.

"Wenn so ein Treffer kommt, dann läuft die Maschinerie an", sagt Bösch. Die Ermittler glaubten nun, ein Profil erstellen zu können: Sie suchen nach einer weiblichen Person, die sich im Drücker- und Drogenmilieu aufhält, mobil und in wechselnder männlicher Begleitung unterwegs ist. Eine Art Rasterfahndung begann, Verdächtige wurden einbestellt und "gespeichelt", wie die Ermittler es nennen. Tausende bekamen einen Q-Tip in den Mund gesteckt, doch der Computer meldete keinen Treffer.

Die "Sonderkommissionen Schlinge" aus Freiburg und Idar-Oberstein wurde mit den Jahren zur Arbeitsgruppe heruntergestuft, es befassten sich nur noch einzelne Beamte mit dem Fall, den sie 2002 schließlich zum ersten Mal an "Aktenzeichen XY" übergaben. Das macht die Polizei, wenn sie nicht mehr weiter weiß.

Ins Obdachenlosenmilieu abgerutscht

Es dauerte ein Jahr, bis wieder Neuigkeiten von Computer kommen. Am Tankdeckel eines gestohlenen Autos fanden Kriminaltechniker die DNS der Gesuchten, ein Täter wurde festgenommen. Zum ersten Mal glaubten die Ermittler, das Phantom würde ein Gesicht bekommen. Der Festgenommene sagte aber aus, dass beim Diebstahl keine Frau dabei gewesen sei. Die Beamten begannen zu zweifeln. "Vielleicht hat sie sich verkleidet, oder ist eine Transsexuelle", sagt Bösch, "an alles haben wir gedacht." An zehn Institute wurde das DNS-Material geschickt, alle sagten, dass es sich um eine weibliche Person handeln müsse, die Fehlerquote liege bei einigen Promille.

Einige Monate später meldete sich der Computer wieder, in einem Freiburger Obdachlosenheim hebelten Einbrecher den Geldschrank auf, wieder war das Phantom dabei. Das Profil gewann an Schärfe, die Gesuchte war offenbar ins Obdachlosenmilieu abgerutscht. Das Netz zog sich zu, aber die Maschen waren noch zu groß. Und es war an der falschen Stelle ausgelegt, denn das Umfeld der Frau hat sich wieder verändert.

Die Ortschaft Mauthausen in der Nähe von Linz liegt dort, wo Donau und Enns zusammenfließen, neben dem Ufer ein großes Shopping-Center. Im Juli 2006 kam vier Mal eine Bande mit dem Auto vorgefahren: Ein Kanaldeckel flog in die Scheibe eines Elektromarktes, säckeweise Handys wurden gestohlen. Heute sind die Kanaldeckel verschweißt, wie es sonst nur gemacht wird, wenn der US-Präsident vorbeikommt.

Noch ein Rätsel mehr

Die österreichische Polizei sicherte in dem Geschäft die DNS der Gesuchten, sie ist nun ein internationaler Fall. Insgesamt dreizehn Mal findet sich ihre Spur in Österreich. Die Ermittler gehen davon aus, dass sie sich einer organisierten Bade angeschlossen hat, die einmal in einem Autohaus Dutzende Airbags aus Neuwagen ausbaute. So etwas macht man nur, wenn man einen Auftraggeber hat.

"Dennoch ergibt sich kein klares Bild", sagt Rudolf Keplinger. Der 46-Jährige ist Leiter des Landeskriminalamts Oberösterreich in Linz und sitzt in seinem Büro, immer wieder klingelt das Handy mit der James-Bond-Melodie. "Die einzige Hypothese, die wir zu Grunde legen, ist, dass es eine Frau sein muss", sagt er. Ansonsten sei das Muster unklar. Mal stiehlt sie Motorräder, dann zapft sie von einer Baumaschine Diesel ab und nimmt in einer Gartenhütte eine Gitarre mit. Warum eine Gitarre?

Die DNS sei nur ein Indiz, bedeute nicht automatisch, dass die Gesuchte auch am Tatort war, sagt Keplinger. Es würde schon reichen, wenn zum Beispiel nur Kleidung von ihr dort war. Die Spur der Gesuchten fand sich auch bei einem Einbruch in Bad Ischl und 24 Stunden zuvor an einem anderen Tatort in Worms, viele hundert Kilometer entfernt. Wieder so ein Rätsel.

Vergangene Woche stiegen Polizeitaucher in den Rhein bei Worms, um eine Waffe zu finden, die 2005 bei einer Schießerei zwischen zwei Brüdern in einem Familienclan benutzt wurde - an den Projektilen fand sich die DNS der Frau. Der verurteilte Täter sagte aus, dass er die Waffe vor Jahren von seinem verstorbenen Vater bekommen habe. Dass er keine Frau kenne, die in Betracht komme.

Dennoch sah es vor einigen Monaten so aus, als könnte die Frau doch noch ein Gesicht bekommen. An zwei Tatorten in Österreich haben neben der Frau auch ein Serbe und ein Pole ihre Spuren hinterlassen. Beide sitzen mittlerweile in Untersuchungshaft. Ihr Umfeld werde "ausgeforscht", sagt Keplinger, bisher ohne Ergebnis.

Volker Rittenauer sitzt im Besprechungszimmer der Heilbronner Polizei und sagt immer wieder, man könne nichts ausschließen. Einen Satz, den er in den vergangenen Wochen hunderte Mal gesagt hat.Nachher wird er wieder in sein Auto steigen, nach Hause fahren und auch nach Dienstschluss auf der Suche sein. Er wird in die Gesichter von Frauen schauen und dort nach Zahlen suchen. Nach einem Code, der ein Gesicht ergibt und einen Sinn.

© SZ vom 25. Juni 2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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