Moderner Glaube:Warum Religion gut tut

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Therapeuten, Mediziner, Hirn- und Sozialforscher sagen: Glauben tut gut. Wer fromm ist, lebt gesünder, wiegt weniger und hat einen niedrigeren Cholesterinspiegel als Ungläubige. Der Glaube als Teil der Wellness- und Fitness-Bewegung? Eine gruselige Vorstellung.

Gedanken zum Katholikentag von Matthias Drobinski

Die Frau lässt sich nicht wegdrängen. Sie muss zu ihm, egal, welche Anstandsregel das jetzt verletzt und wie peinlich die Sache werden könnte. Zwölf Jahre schon hat sie diese Blutungen, jeden Monat. Sie scheinen gar nicht mehr aufzuhören, sie zehren sie aus, bis sie gar nicht mehr sie selbst ist vor Müdigkeit und Blutverlust. Ein Vermögen hat sie schon ausgegeben für Ärzte, die ihr erst von der neuesten Methode erzählten, dann ratlos den Kopf wiegten und schließlich achselzuckend die Rechnung schrieben.

Und jetzt ist sie da, diese unglaubliche Hoffnung, die Gewissheit: Ich muss den Saum seines Gewandes berühren, dann wird alles gut. Sie schafft es, den Zipfel der Verheißung zu packen. Sie spürt die Kraft und weiß: Sie ist geheilt. Sie spürt diese Kraft so sehr, dass auch dieser Jesus sie spürt, der da ohne Heimat durch die Gegend zieht und von einem Vater im Himmel erzählt. Er dreht sich um. Sie erzählt ihm, zitternd, ihre Geschichte. Er sagt: "Dein Glaube hat dir geholfen."

Der Glaube hilft dem, der glaubt. Über Jahrhunderte galt diese Geschichte aus dem Neuen Testament den Christen zum Beweis dafür. Der Glaube hilft der blutflüssigen Frau, hilft Besessenen, Blinden, Aussätzigen, und das nicht erst im Himmelreich, sondern jetzt, hier und sofort. Wer glaubt, wird erlöst vom Leid, manchmal jetzt, spätestens im Tod. Und wem er nicht hilft, den holt der Teufel zu Recht.

Dann ist die Aufklärung solchen Wundergeschichten auf den Leib gerückt. Und die Psychologie hat im 19. Jahrhundert die Gegenthese aufgestellt: Der Glaube macht krank. Er zwingt die Menschen in Angst und falschen Gehorsam, und jene Neurosen, die nicht die prüden Eltern verursacht hatten, gehen sicher auf die moralisierenden und leibfeindlichen Kirchen zurück. 1976 schrieb der Psychotherapeut Tilmann Moser über die religiöse Neurose und die Depression, die aus der Vorstellung vom strafenden Gott entsteht, dem es der Mensch nie recht machen kann - er prägte den Begriff "Gottesvergiftung".

Wem der konservative Pfarrer nicht gefällt, der geht eben in die Nachbargemeinde

Doch ausgerechnet jetzt, wo der Glaube ein knappes Gut geworden ist, wandelt sich die Wahrnehmung. Jetzt, wo die Leute in Scharen aus den Kirchen austreten, die Christen nicht nur in Ostdeutschland zur Minderheit werden, sagen die Therapeuten, Mediziner, Hirn- und Sozialforscher: Glauben tut gut. Wer fromm ist, lebt gesünder, wiegt weniger und hat einen niedrigeren Cholesterinspiegel als der Ungläubige, und außerdem ein stabileres Immunsystem. Er muss seltener ins Krankenhaus, und wenn, ist er schneller wieder draußen. Er ist häufiger zufrieden mit seinem Leben, lebt in stabileren Beziehungen, hat mehr Freunde und Bekannte als der, dem der liebe Gott egal ist. Er ist mit größerer Wahrscheinlichkeit Vereinsmitglied und sozial engagiert und mit geringerer Wahrscheinlichkeit ein Neonazi. Mehr als 1200 Studien soll es mittlerweile geben, die dies alles bestätigen, und auch Tilmann Moser hat seine These von der Gottesvergiftung relativiert: Eine reife Religiosität hilft im Leben, und sei es als Krückstock, auf den man sich stützen kann, wenn der Gang durchs Leben schwer fällt.

So sehen es auch die meisten Menschen, die sich in den kommenden Tagen in Regensburg zum Katholikentag treffen: Mein Glaube hilft mir im Leben, er ist Richtschnur für meine Entscheidungen, er tut mir gut, er bringt Freude, Zufriedenheit und Spaß ins Leben. Die wenigsten dürften von der Frage bedrückt durch die schöne Stadt an der Donau schleichen, die noch Martin Luther umtrieb: Wie finde ich einen gnädigen Gott - wie entkomme ich der Hölle und ihren Qualen?

Noch nie war der christliche Glaube so frei wie heute, selbst in seiner katholischen Variante, die eine Menge Reformbedarf und viele dunkle Geschichten mit sich herumschleppt. Wer aber glaubt, dass Sex vor der Ehe keine Sünde ist und künstliche Verhütung auch nicht, der lebt einfach entsprechend und ist trotzdem in den Gemeinden willkommen. Wer sich politisch der SPD oder den Grünen näher sieht als der CSU, findet in den katholischen Verbänden seine Möglichkeit, das zu vertreten. Wem der konservative Pfarrer nicht gefällt, der geht in die Nachbargemeinde. Trotz aller Säkularisierung: die 24 Millionen Katholiken und 23 Millionen Protestanten sind die größten Menschenvereinigungen im Land, sie tragen die Zivilgesellschaft, ohne die ein Land arm dran ist.

Religion hilft. Das ist schön, das ist gut und wird zu selten gesagt im Zeitalter der Kirchenskandale. Aber das reicht nicht, und je länger man darüber nachdenkt, desto größer wird das Unbehagen. Beten und Meditieren hilft dem Immunsystem - so wie rechtsdrehender Joghurt der Darmflora oder Krankengymnastik dem lädierten Knie? Der Kirchgang am Sonntagmorgen dient dem Wohlbefinden wie Schwimmen und Sauna am Samstagnachmittag?

Der Glaube als Teil der Wellness- und Fitness-Bewegung, das ist eine gruselige Vorstellung. Religion wird zum Zweck, zur spirituellen Badewanne. Und wem es hinterher nicht besser geht, wer immer noch Fragen hat, wem der Zweifel ein hartnäckiger Begleiter bleibt- der hat was falsch gemacht, hat die geforderte Leistung nicht erbracht. Wer nicht geheilt von dannen geht, wer weiterhin Sorgen hat und ratlos vor seinem Leben steht, hat nicht richtig geglaubt. Hinter dieser Vorstellung steht die religiös gewordene Drohung der Positive-Thinking-Ideologie: Sieh es positiv - oder stirb.

Vielleicht aber ist eine Krebserkrankung nicht in jedem Fall eine Herausforderung, aus der man gestärkt hervorgeht, sondern ein guter Grund für Verzweiflung. Den Glauben als Wellnessangebot zu sehen, als Lebensbewältigungsgarantie - das ist nicht besser als die Obrigkeit, die im 19. Jahrhundert davon ausging, dass eine ordentliche Religion tausend Polizisten spart. Es macht den Glauben zum Zweck. Doch dann verliert dieser Glaube, was ihn ausmacht: Er ist nicht mehr Ahnung des Paradieses. Er erzählt nicht mehr von der anderen Seite, vom fremden Gott so wenig wie von dem, der einem näher ist als der innerste aller Gedanken. Der Glaube ist nicht mehr frei und macht nicht mehr frei. Er verliert seine Transzendenz und tritt seinen Dienst an, im Namen der Obrigkeit, des Gemeinwesens, der Volksgesundheit.

Und dann hilft er auch nicht mehr und macht auch nicht mehr gesund. Die Meditation heilt paradoxerweise vor allem dann, wenn sie nicht zielgerichtet zur Heilung eingesetzt wird, wenn sich nicht einer niedersetzt und sagt: Jetzt muss es mir aber, verdammt noch mal, bald besser gehen - Forscher haben diesen Effekt bei Buddhisten wie bei Christen beobachtet. Der Glaube ist zwecklos, und wer ihn verzwecken will und benutzen, zerstört ihn, ob er Politiker ist oder Therapeut oder Bischof.

Dem Zweck entkommen - den Sinn finden

Der Sinn des Glaubens liegt im Zwecklosen. Er setzt allen menschlichen Zwecken Grenzen, allen Taten, Plänen, Maßstäben und Vorstellungen. Das Gebet von Papst Franziskus an der Mauer zwischen Israel und Palästina und am Denkmal für die Ermordeten des Terrors war zwecklos: Einen Friedensplan für den Nahen Osten bringt das nicht. Aber es hat seinen Sinn, weil es den Herren Netanjahu und Abbas die Grenzen ihres Handelns zeigt. Wer meditiert und sich ins Gebet versenkt, entkommt dem Zweck und findet den Sinn. Der Gläubige kann sich in seinen Nöten und Ausweglosigkeiten vor seinen Gott werfen und den Fall an die höchste Instanz abgeben: Mach du was draus. Das ist zwecklos, aber nicht sinnlos.

Dem Zweck die Grenzen zeigen, sich selbst nicht die letzte Instanz sein müssen - und dürfen: Das sind die Gaben des Glaubens an die Gläubigen und an die ganze Gesellschaft. Es ist die Kraft des Transzendenten, die verhindert, dass der Mensch zum Objekt des Menschen wird, ob bei der Embryonenforschung, der Wirtschafts- und Flüchtlingspolitik. Zu glauben heißt, sich vor Gott werfen können, in geradezu anarchischer Pose: Du kannst die Herrschaft abgeben. Du musst nicht mehr alles kontrollieren, besser machen, richtig machen. Du kannst Mensch sein mit allen Fehlern.

Welch eine erleichternde Vorstellung: Der Glaube schlägt dem ganzen Selbstoptimierungsgewese ein Schnippchen. Das kann man gar nicht laut genug feiern auf dem Katholikentag in Regensburg.

© SZ vom 28.05.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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