Mobile Warnsysteme:Mehrere Millionen Hilfspolizisten

Der Handy-Hinweis auf den Attentäter von New York sorgt in den USA auch für Kritik. Die Behörden aber wollen das System noch erweitern. Schon bald könnten multimediale Steckbriefe verschickt werden.

Von Simon Hurtz, New York/München

Jeden Montagmorgen summen, brummen und vibrieren Millionen Smartphones in New York. Was am Montagmorgen um kurz vor 8 Uhr passierte, war trotzdem ungewöhnlich. Fast alle Smartphones meldeten sich zur gleichen Zeit, mit dem gleichen Ton: ein schrilles Pfeifen, anders als die üblichen Klingeltöne. "Nichts ist gruseliger, als wenn alle Handys in einer vollen U-Bahn losgehen, um auf einen gesuchten Straftäter hinzuweisen", beschreibt es die Journalistin Loren Gush auf Twitter. Denn genau das steckte hinter dem Alarm: ein digitaler Steckbrief in Form einer Push-Benachrichtigung. Um 7.45 Uhr bat die New Yorker Polizei die Behörden, in allen fünf Stadtbezirken sogenannte Wireless Emergency Alerts (WEA) abzuschicken. Wenige Minuten später zückten Millionen Menschen ihre Smartphones und lasen: "Gesucht: Ahmad Khan Rahami, 28-jähriger Mann, Fotos entnehmen Sie den Medien, rufen Sie die 911 an, wenn Sie ihn sehen."

Rahami wird verdächtigt, die Bomben gebaut und deponiert zu haben, die am Wochenende in New York und New Jersey explodierten und 29 Menschen verletzten. Es war das erste Mal, dass auf diese Art nach einem Tatverdächtigen gesucht wurde. Im Gegensatz zu einem gewöhnlichen Fahndungsaufruf ist der WEA aber durch die Technik limitiert. "Wir sind die technologisch am weitesten entwickelte Gesellschaft der Welt und müssen uns immer noch mit simpler Textkommunikation in Notsituationen abfinden", kritisierte Jonathan Thompson, Chef der Nationalen Sheriff-Vereinigung. Was er meint: WEA wirken in vielerlei Hinsicht wie ein Relikt aus den 90er-Jahren - sie bestehen aus höchstens 90 Zeichen, Bilder und Videos können nicht verschickt werden. Deshalb mussten die Behörden auf die Medien verweisen und konnten nicht einfach ein Foto von Rahami mitschicken. Auch für Grund und Absender der Nachricht war kein Platz.

Mobile Warnsysteme: So sah der SMS-Warnhinweis auf dem Handy des SZ-Korrespondenten in New York aus. Screenshot: Tanriverdi

So sah der SMS-Warnhinweis auf dem Handy des SZ-Korrespondenten in New York aus. Screenshot: Tanriverdi

Neben der Kritik an den formalen Einschränkungen gibt es inhaltliche Bedenken. Der Alarm sei "sehr problematisch" gewesen, sagte Bandana Kar der New York Times. Die Geografie-Professorin hat das WEA-System untersucht und kritisiert die Mitteilung, die in New York verschickt wurde, als "sehr unspezifisch". Sie hält es für gefährlich, die Menschen aufzufordern, selbst in den Medien nach einem Foto zu suchen: "Was, wenn jemand die falsche Person identifiziert?"

Unabhängig von den Bedenken sind die WEA in den USA aber ein etabliertes Mittel, um die Bevölkerung zu warnen. Obwohl sie aussehen wie SMS, haben sie damit kaum etwas gemeinsam. Sie werden an alle Handys in Reichweite eines bestimmten Mobilfunkmastes ausgeliefert, unabhängig von der Netzauslastung - gerade in Katastrophensituationen, wenn jeder versucht, seine Familie zu erreichen, sind die WEA deshalb hilfreich. Seit 2012 der erste Alarm verschickt wurde, haben mehr als 500 Behörden, darunter Bezirks-Sheriffs, Stadt- und Bundesstaatsregierungen, Militär, Polizei und Feuerwehr, das System rund 21 000 Mal eingesetzt. New York kündigte 2012 während des Hurrikans Sandy die Evakuierung der Stadt an, verhängte im vergangenen Jahr ein Fahrverbot wegen eines Blizzards, warnte die Bewohner von Chelsea am Sonntag vor einer möglichen weiteren Bombe - und machte nun am Montag alle New Yorker zu Hilfspolizisten.

Warn-Apps in Deutschland

Was in Amerika seit 2012 durch ein Warnsystem unter Beteiligung der großen US-Mobilfunkanbieter möglich ist, funktioniert in Deutschland nur, wenn sich Smartphone-Nutzer proaktiv anmelden. Nach Angaben der Pressestelle der Bundesdatenschutzbeauftragten könnte eine ähnliche Regelung wie in den USA prinzipiell auch in Deutschland möglich sein, man müsse aber zuerst die rechtlichen Grundlagen prüfen. Zurzeit gebe es seines Wissens nach aber keine Pläne für die Entwicklung eines automatisierten Warnsystems. Wer in Deutschland Katastrophenwarnungen trotzdem direkt auf sein Smartphone gesendet bekommen möchte, muss sich zwischen mehreren Warn-Apps entscheiden: Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe betreibt etwa die App "Nina". Die Warnungen, die der Smartphone-Nutzer nach Download und Registrierung dann per Push-Benachrichtigung bekommt, stammen von den jeweils zuständigen Behörden des Zivil- und Katastrophenschutzes. Zusätzlich werden je nach Gefahrenlage Empfehlungen und Notfalltipps zur Verfügung gestellt. Sollte man allerdings keine Internetverbindung oder kein Handynetz haben, da man beispielsweise in der U-Bahn sitzt, können Warnungen und Aktualisierungen nicht empfangen werden. Ein weiteres Warnsystem, entwickelt vom Fraunhofer-Institut Fokus, hatte während des Amoklaufs im Münchner Olympia-Einkaufszentrum für Aufsehen gesorgt. Die bayerischen Sicherheitsbehörden hatten über die App Informationen und Empfehlungen versendet. Durch die kurzzeitig sehr starke Nutzung dieser sogenannten Katwarn-App stieß das System allerdings schnell an seine Grenzen - und meldete einige Informationen mit Verspätung. Inzwischen wurden die Serverkapazitäten des Systems jedoch verdoppelt, wie der Geschäftsführer des Mitbetreibers "CombiRisk", Arno Vetter, Medienberichten zufolge mitteilte. Der Dienst ist kostenlos und per Smartphone-App, SMS und E-Mail abrufbar. Katwarn hat etwa 1,5 Millionen Nutzer. Kim Lucia Ruoff

Es gibt drei Anlässe für WEA: Die sogenannten "Amber-Alerts", wenn Kinder entführt werden; unmittelbare Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit, häufig schwere Unwetter oder andere Naturkatastrophen; außerdem kann der Präsident den US-Amerikanern im Fall der Fälle eine Push-Nachricht schicken und vor landesweiten Notfällen warnen - das ist bislang aber noch nie passiert. Die ersten beiden Benachrichtigungen können Smartphone-Besitzer manuell deaktivieren, nur die Botschaften aus dem Weißen Haus werden zwangsweise allen Menschen in Reichweite eines Mobilfunkmastes zugestellt.

Für deutsche Ohren mag das Alarmsignal ungewohnt und, ganz im Sinne der Erfinder, tatsächlich alarmierend klingen. Menschen in den USA scheinen sich aber daran zu gewöhnen. In den ersten neun Monaten dieses Jahres wurden genauso viele WEA abgeschickt wie in den drei Jahren zuvor. Brooke Liu, Professorin an der Universität von Maryland, hat den Umgang mit den Alarmsignalen erforscht und festgestellt, dass die Empfänger kaum erschrecken oder in Panik geraten: Das größere Problem sei, dass die Nachrichten ignoriert würden. Schon bald aber könnte die Polizei noch längere, multimediale Steckbriefe als WEA verschicken: Die Federal Communications Commission will die Netzbetreiber überzeugen, die Länge auf 360 Zeichen zu vervierfachen und Bilder und Videos zuzulassen.

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