Süddeutsche Zeitung

Misshandlungsvorwürfe gegen Altenpfleger:Das Grauen auf der "Sonnenschein"-Station

Ungeheuerliches wird einem Stationsleiter und einem Pfleger im Saarland vorgeworfen: Sie sollen in einem Altersheim in Spiesen-Elversberg systematisch Patienten gequält haben - womöglich mit Todesfolge. Was wirklich passiert ist, muss jetzt die Staatsanwaltschaft klären.

Marc Widmann, Spiesen-Elversberg

"Blumenwiese" und "Sternenhimmel", so friedvolle Namen tragen die Stationen im Seniorenheim der Arbeiterwohlfahrt (Awo) im saarländischen Spiesen-Elversberg. Die Abteilung im zweiten Stock heißt "Sonnenschein", wie hübsch, nur in den vergangenen Monaten war sie offenbar ein düsterer Ort.

Die zwölf Patienten der Beatmungsstation, denen die Kraft zum selbstständigen Atmen fehlt, wurden offenbar von zwei Pflegern gequält. Bei zwei Todesfällen prüft die Staatsanwaltschaft nun, ob sie vielleicht doch nicht natürlich waren. Der Vorsitzende der Arbeiterwohlfahrt im Saarland klingt erschüttert: "Für mich sind das Psychopaten, weil ich mir das von normalen Menschen nicht vorstellen kann", sagt Paul Quirin.

Anfangs drehten sich die internen Ermittlungen der Awo nur um verschwundene Schmerzmittel, aber je mehr Mitarbeiter sie befragten, desto schlimmer erschien das Treiben der beiden Sonnenschein-Pfleger. Von "abgrundtiefem Sadismus" spricht ein Anwalt der Awo.

Der 35-jährige Stationspfleger steht im Verdacht, im Februar eine wundgelegene Patientin ohne Betäubung und ohne Erlaubnis eines Arztes chirurgisch behandelt zu haben. Sie starb bald darauf, und es ist denkbar, dass die Schmerzen des Eingriffs dazu beitrugen. Darauf angesprochen habe der Pfleger behauptet, er könne so etwas besser als jeder Arzt. Einem alten Mann soll er Ende Mai so viele Tabletten eines Morphium-Präparats verabreicht haben, dass auch er starb.

Atemkanüle gezogen

Neben dem Stationsleiter steht ein 25-jähriger Pfleger unter Verdacht. Er soll einem unruhigen Bewohner die Atemkanüle gezogen haben, um ihn zu erziehen. Angeblich fragte er ihn, wie es sei, wenn man keine Luft bekomme. Einen anderen Patienten habe er absichtlich geschnitten, weil der beim Rasieren nicht stillhielt. Eine alte Frau soll er fotografiert und ihr auf dem Bild ein Hitlerbärtchen verpasst haben, ehe er es an Kollegen schickte. Als ob das nicht genug wäre, fanden sich auch noch zwei goldene Uhren in den Spinden der Männer, die womöglich gestohlen sind.

Über ihren Anwalt weisen die Pfleger alle Vorwürfe zurück und verlangen Schadenersatz von der Awo, weil diese die Tatsachen verdrehe. Was Awo-Vorstand Quirin nur noch mehr schockiert. "Furchtbar", sagt er. Und bittet, jetzt nicht die ganze Altenhilfe unter Kollektivschuld zu stellen.

Das Grauen auf der Sonnenschein-Station ist ein Sonderfall, der zugleich einiges erzählt über die Nöte der Branche. Seit langem herrscht Personalmangel, und als sich der 35-jährige Pfleger im September in Elversberg bewarb, war das Heim heilfroh. "Wir kriegen ja kaum jemanden", sagt Quirin, "wir haben sofort zugegriffen." Die fachlichen Zeugnisse waren einwandfrei, das polizeiliche Führungszeugnis leer. Nur die Zeugnisse der letzten Arbeitgeber fehlten, die hat der Pfleger nie vorgelegt. "Das haben wir vernachlässigt", gibt Quirin zu. Sie waren ja glücklich, überhaupt jemanden bekommen zu haben.

Äußerlich war der Mann tadellos, er muffelte nicht wie manche Bewerber, hatte saubere Fingernägel. Auch der jüngere Pfleger wirkte völlig harmlos, er hatte bereits seine Ausbildung bei der Awo gemacht. Auf der Station, so erzählt man jetzt, hätten die beiden ihre Kollegen eingeschüchtert. Dazu kam, das viele der Mitarbeiter sich auch privat kannten, nah beieinander wohnten. So entstand eine "Mauer des Schweigens", wie es ein Insider nennt. So dauerte es lange, bis endlich jemand Alarm schlug.

Missstände schon früher bekannt

Eilends hat die Awo jetzt Konsequenzen beschlossen. Ein neutraler Psychologe soll künftig als Supervisor durch die Pflegestationen ziehen. Er soll überforderte Pfleger erkennen, er soll verhindern, dass Pfleger ihre Patienten hinter all den Schläuchen irgendwann nur noch als Objekte sehen. Auch eine neutrale Beschwerdestelle für die Mitarbeiter will die Awo einrichten.

Dass in dem Heim nicht alles zum Besten stand, zeigt die jüngste Kontrolle des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen. Im vergangenen Dezember besuchte er aufgrund einer Beschwerde das Haus. Am Ende erhielt es die Gesamtnote 1,4 - gerade noch durchschnittlich. Die Prüfer hatten 17 der 158 Bewohner befragt, genug um einige Mängel zu finden. Aber zu wenig, um "kriminelle Fehlhandlungen bei einzelnen Bewohnern aufzudecken", sagt Oliver Roy Wermann, leitender Arzt des Dienstes.

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SZ vom 22.06.2012/jst
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