Misshandlung von Kindern:Kevins Gesetz

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Bis heute steht der Name des misshandelten kleinen Kevin für tödliches Versagen der Bremer Behörden. Als Konsequenz will das Land künftig alle toten Kleinkinder obduzieren lassen.

Charlotte Frank

Ihm waren buchstäblich fast alle Knochen im Leib gebrochen worden, manche dreimal an derselben Stelle: der Schädel, die Rippen, die Schien- und Wadenbeine und die Oberarme, rechts noch der Unterarm, links das Handgelenk. Mehrere hundert Seiten umfasst der Obduktionsbericht des kleinen Jungen, den Polizisten Ende 2006 in der Kühltruhe seines Vaters in einer Bremer Sozialwohnung gefunden hatten: Kevin.

Der Name steht bis heute für tödliches Versagen der Bremer Behörden, für viele Beamte hat er die Politik der Stadt in eine Zeit vor und nach Kevin geteilt. Das jüngste politische Vorhaben etwa, sagt Petra Kodré, Sprecherin im Bremer Sozial- und Gesundheitsamt, "hängt natürlich immer noch mit Kevin zusammen": Die Bremer wollen, dass künftig alle Leichen von Kindern unter sechs Jahren verpflichtend obduziert werden - jedenfalls, "wenn die Todesursache nicht zweifelsfrei erkennbar oder nicht zweifelsfrei bekannt ist".

Abwägen zwischen allgemeinem Kindeswohl und Leid der Eltern

So steht es im Entwurf, der das Gesetz über das Leichenwesen neu ordnen soll. Doch noch bevor die Bürgerschaft die Änderung beschlossen hat, wird heftig darüber gestritten. Manche behaupten, dass vor Kevin viel zu wenig getan wurde und jetzt viel zu viel.

Das Katholische Büro zum Beispiel lehnt die Obduktionspflicht ab - weil sie nur der Strafverfolgung diene, nicht dem Kindeswohl. Schließlich sei das Kind ja schon tot. Kritisch gibt sich auch der Deutsche Kinderschutzbund: "Der Tod eines Kindes ist wohl das Schlimmste, was Eltern passieren kann", sagt undesgeschäftsführerin Paula Honkanen-Schoberth. "In so einer Situation sollte man sie nicht auch noch unter Generalverdacht stellen."

Doch gerade in diesem Punkt zeigt sich das Gesundheitsamt hart: "Wir mussten abwägen zwischen dem allgemeinen Kindeswohl und dem individuellen Leid der Eltern", sagt Sprecherin Kodré. Da habe man nicht gezögert, denn gerade Morde an Kindern ließen sich viel zu leicht verschleiern. Die bisherige Regel, die in den meisten Bundesländern gilt, könne dagegen kaum helfen: Demnach wird nur obduziert, wenn Staatsanwaltschaft und Ermittlungsrichter den Auftrag dazu erteilen, zum Beispiel bei Verdacht auf Misshandlung.

Es gibt keine genauen Zahlen, aber es gibt Schätzungen: Bis zu 50 Prozent aller Tötungsdelikte in Deutschland bleiben womöglich unerkannt. "Auch bei Kindern gehen wir von einer hohen Dunkelziffer aus", sagt Matthias Graw, Leiter des rechtsmedizinischen Instituts der Ludwig-Maximilians-Universität München, "bei ihnen bleiben nicht-natürliche Todesursachen besonders leicht unentdeckt".

Schütteltraumata oder Tod durch Ersticken zum Beispiel ließen sich bei der äußeren Leichenschau kaum feststellen. Auch Misshandlungen seien oft nicht ersichtlich, weil Säuglinge schon durch relativ leichte Gewalteinwirkung sterben können. Graw kann deshalb die Vorbehalte der Kritiker nicht nachvollziehen: "Man kann es auch anders sehen: Die Eltern werden durch die Obduktion von jedem Verdacht befreit", sagt er, zudem könne die Untersuchung bei der Trauerarbeit helfen oder auf Krankheitsrisiken bei Geschwistern hinweisen.

So sehen das auch die Verantwortlichen in Bremen. "Gerade wenn weitere Kinder im Haushalt leben, müssen wir die Schuld der Eltern ausschließen", sagt Petra Kodré.Die Obduktion solle keine Abschreckung sein. "Aber in Bremen muss klar sein: Das Kindeswohl wird mit allen Mitteln geschützt." Seit Kevin muss das klar sein.

© SZ vom 24.02.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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