Der "Schokoladenonkel" war spätestens seit Gert Fröbes Auftritt in dem Film "Es geschah am hellichten Tag" eine drohende Allgegenwart. Niemand weiß Genaueres darüber, wie hoch die Dunkelziffer ist bei Missbrauchsfällen in der Nachkriegszeit und wie viel in den engen Wohnungen der Fünfzigerjahre wirklich passiert ist und vertuscht wurde.
Am schlimmsten dabei war und ist, dass das Kind mit niemandem darüber reden konnte und dieses Leid ins Erwachsenenalter schleppte, geplagt von Essstörungen und krankhafter Angst vor Berührungen. Es sind eklige Geschichten wie diese: "Seine Zunge bohrt sich zwischen meine Schenkel. Ich wehre mich mit all meiner Kraft, strample wie verrückt. Er lässt von mir ab: 'Warum denn nicht, das ist doch süß! Komm, stell dich nicht so an!'"
So erinnert sich Pola Kinski, das älteste Kind des einzigartigen Selbstschauspielers Klaus Kinski, an ihren Vater. Kinski ist 1991 mit 65 Jahren gestorben. Pola, inzwischen selber sechzig Jahre alt, hat ihre Geschichte jetzt aufgeschrieben. Sie heißt "Kindermund" (jener, der sprichwörtlich die Wahrheit kund tut) und erscheint bei Insel, dem Verlag, der einst auch die Gedichte Rainer Maria Rilkes veröffentlichte. Jetzt bekommt man solche Sätze zu lesen: ",Süßes Püppchen, mein Engelchen', haucht er. Dann bedeckt er meine Augen, meine Wangen und meinen Mund mit unzähligen feuchten Küssen. Verstohlen wische ich mir mit dem Mantelärmel übers Gesicht."
Auch Rilke beschwor den Engel, doch stieg seiner vom Himmel herab und gab ihm Verse ein, die vor allem seine Gönnerinnen betörten. Pola Kinskis Geschichte ist anders und hat mit klassischer deutscher Literatur wenig zu tun. Ihrem Bericht zufolge war sie über Jahre das Opfer der Gier ihres Vaters.
Die schlimmste Opfergeschichte
Dieses sofort breit ausgeschlachtete Buch wirkt authentisch und scheint doch von professioneller Hand geschrieben. Wenn Pola Kinski den Verführer schildert, lässt sie keine Kitsch-Vokabel aus. Natürlich hat der zudringliche Vater "starke Arme" und er "presst mich an seinen Körper". Er riecht nach Zigaretten und Parfüm, es "ekelt mich, ich bekomme kaum Luft". Und wie in der Pornografie klassischer Spielart, als Handreichung für ältere Männer, geht es weiter: "Er nimmt meine Hand, umschließt sie fest mit seiner Pranke, und wir gehen hinaus. Ich werfe Mama einen flehenden Blick zu, aber sie schweigt (. . .) Er führt mich zu einem roten Auto."
Es ist die schlimmste Opfergeschichte, die sich denken lässt. Es sind auch die Jahre, in denen Vladimir Nabokovs Roman "Lolita" aus der Zensur befreit und als Literatur gelesen werden durfte. Die sexuelle Libertinage begann lange Zeit vor den nackten Hintern der Kommune 1, und Kinski, der sich so lange ohne Erfolg um Engagements bemüht hatte und darüber immer noch größenwahnsinniger geworden war, wird im Italien der frühen Sechziger zum Star.
Diesem Wüterich, der "liebste Feind" seines besten Regisseurs Werner Herzog, ist ohne weiteres zuzutrauen, dass er sich durch sein Leben als Vater und Ehemann ebenso berserkerte wie durch seine Filme. Der grausame Kopfgeldjäger in Sergio Corbuccis "Leichen pflastern seinen Weg" heißt schließlich nicht umsonst "Loco", den nur der komplett verrückte Kinski spielen konnte.
Auch wenn sie nicht nachprüfbar ist, wird die Geschichte mit all ihren abstoßenden Details wohl stimmen. Sie ist das Zeugnis einer vielfach missbrauchten, als Kind für teuer Geld in Internate abgeschobenen Frau, früh auf hohem Niveau verwahrlost, mit Cartier und in Restaurants, wo "der Papst isst", rettungslos verzogen, unverantwortlich sexualisiert und für ein halbwegs normales Leben gründlich verdorben.
In der Schule wird ihr vorgehalten, sie könne "Phantasie und Wirklichkeit nicht auseinanderhalten", was bei einem Leben zwischen einer Protz-Villa an der Via Appia Antica und dem Resopal einer Lehrerwohnung in München-Neuhausen niemanden verwundern wird. Während der Vater sich an ihr vergeht, hört sie, wie dessen neue Frau der Stiefschwester ein Schlaflied singt. "Wer singt für mich? Ich weine leise, Tränen laufen über mein Gesicht."
Der Missbrauch beschränkt sich keineswegs auf den brüllenden, geifernden, die Kellner und die Domestiken beschimpfenden Kinski. Von früh auf steht sie selber auf der Bühne, bekommt kleinere Rollen beim Film. Als sie für einen Warn- und Aufklärungsfilm ein Mädchen spielt, dem auf dem Oktoberfest ein älterer Mann nachstellt, wird ihr Einfühlungsvermögen gelobt. Von der Gage sieht sie nichts; Mutter und Stiefvater leben davon.
Aus Pola Kinski ist später ebenfalls eine Schauspielerin geworden, die weit subtiler agierte als ihr Vater, wenn auch niemals so märchensomnabul wie ihre Halbschwester Nastassja Kinski, die dafür ihre eigenen Probleme einsammelte. Es ist ihr zu wünschen, dass sie ihre fürchterliche Kindheit damit ein für allemal verarbeitet hat. Nur der Gefahr, dass sie ein Buch nicht nur für sich geschrieben hat, sondern damit auch einen Voyeurismus bedient, der wird sie nicht entgehen.
Sie habe gegen die allgemeine "Kinski-Vergötterung" geschrieben, hat die Autorin in einem Gespräch mit dem Stern gesagt. "Ich konnte es auch nicht mehr hören: 'Dein Vater! Toll! Genie!'". Am Ende hat sie den Kinski-Familienmythos nicht demontiert, sondern um eine weitere Facette bereichert.