Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche:Opfer, die aus der Wahrnehmung fallen

Klaus Mertes, ehemaliger Direktor des Canisius-Kollegs in Berlinfälle

Klaus Mertes, damals Direktor des Berliner Canisius-Kollegs, verschickte am 20. Januar 2010 jene E-Mail, die einen bundesweiten Skandal um Missbrauch in der katholischen Kirche auslöste.

(Foto: dpa)

Der Jesuitenpater Klaus Mertes verschickte vor drei Jahren jene E-Mail, die einen bundesweiten Skandal auslöste und die katholische Kirche in eine tiefe Krise stürzte. Heute ist Mertes Schuldirektor im Schwarzwald und der Missbrauchsskandal alles andere als aufgearbeitet.

Von Matthias Drobinski

Der Mann, der die Lawine auslöste, sitzt jetzt im Schwarzwald, das Tal ist tief und schattig, das Jesuitenkolleg St. Blasien ist ehrwürdig wie das Canisius-Kolleg in Berlin, das Pater Klaus Mertes bis 2011 leitete. Der Orden hat ihn versetzt, von der Hauptstadt in die Provinz. Klaus Mertes sagt, er sei sehr erschöpft gewesen nach dem Jahr 2010, das ihn zum bekanntesten Jesuiten Deutschlands machte.

Das ist die eine Wahrheit. Die andere ist aber auch, dass Mertes, mit 58 Jahren im besten Alter, Führungsaufgaben zu übernehmen, nun weit weg ist vom Politik- und Medienbetrieb. Jenseits des Schwarzwalds tritt er nur noch selten auf und erklärt mit intellektueller Schärfe, warum das Problem sexueller Gewalt in der katholischen Kirche auch ein Problem der Institution, des Systems ist.

Die SPD hat ihm dafür den Bürgerpreis verliehen, kirchliche Ehren sind bislang ausgeblieben. Der Wiener Kardinal Christoph Schönborn hat ihn zum Vortrag eingeladen, im Zentralkomitee der deutschen Katholiken sitzt er nun als hinzugewählte Persönlichkeit. Für konservative Katholiken ist er dagegen der Mann, der die Kirche in den Dreck gestoßen hat. Als im September 2011 Papst Benedikt XVI. Deutschland besuchte und Mertes beim Abschlussgottesdienst in Freiburg in der Menge stand, erkannte ihn einer der Umstehenden, spuckte vor ihm aus und ging.

Skandal nach Jahrzehnten des Schweigens

Am 20. Januar ist es nun drei Jahre her, dass Klaus Mertes in einer Rundmail öffentlich machte, dass am Berliner Canisius-Kolleg vor allem zwei Jesuitenpatres in den 70er- und 80er-Jahren Schülern sexuelle und andere körperliche Gewalt antaten, dass sie, auch als einige ihrer Taten offenbar wurden, nicht aus dem Verkehr gezogen, sondern lediglich versetzt wurden.

Es ist ja eine spannende Frage, warum ausgerechnet diese Mail den bundesweiten Skandal auslöste, der vor allem die katholische Kirche bis ins Mark erschütterte, und nicht die Missbrauchsfälle, die in den Jahren zuvor bekannt geworden waren. Vielleicht war einfach die Zeit reif dafür. Die Opfer überwanden nach Jahrzehnten des Schweigens Scham und Vereinzelung. Sie fanden in Klaus Mertes einen Partner, der erkannte, dass hier nur radikale Aufklärung helfen würde.

Die Geschichte wurde über die erregungsbereite Medienlandschaft in Berlin ein bundesweites Thema, und sie traf eine Kirche, die ohnehin tief in der Vertrauenskrise steckte. Und dann kamen immer neue Fälle ans Licht. An den Jesuitenschulen, im Internat der Benediktiner in Ettal, in München, wo in der Zeit, als der heutige Papst Benedikt XVI. Erzbischof war, ein auffällig gewordener Priester nach einer Therapie einfach wieder in die Gemeinde geschickt wurde.

8000 Gespräche, 400 Online-Beratungen, 1200 Anträge auf Entschädigung

Kaum ein Skandal hat die katholische Kirche so tief getroffen wie dieser Missbrauchsskandal. Ein Priester, der von der Liebe Gottes erzählt und Kindern sexuelle Gewalt antut - tiefer geht der Verrat nicht. 180.000 Menschen traten 2010 aus der katholischen Kirche aus. Aber, auch das gehört zur Wahrheit: Selten haben die deutschen Bischöfe so viel getan, um aus dem Loch herauszukommen. Sie haben Schuld und Scham bekannt, sich mit Opfern getroffen, ihre Leitlinien zum Umgang mit sexueller Gewalt verbessert, mit dem Trierer Bischof Stephan Ackermann einen Beauftragen für Missbrauchsfälle ernannt, eine Telefonhotline geschaltet. Sie haben versprochen, wissenschaftlich erforschen zu lassen, welches Ausmaß sexuelle Gewalt in der Kirche hat und wie ihr zu begegnen wäre.

Sie und die betroffenen Orden haben sich zu Entschädigungszahlungen durchgerungen, in der Regel sind das 5000 Euro pro Opfer. Verglichen mit den Zahlungen in Österreich, Irland oder gar den USA ist das wenig, aber immerhin: Die katholische Kirche ist in Deutschland die einzige Organisation, die solche Zusagen gemacht hat.

Drei Jahre. In den Auf- und Abregungszyklen von Skandalen ist das eine lange Zeit. Zum Jahresende hat die Telefon-Hotline der Bischofskonferenz ihre Arbeit eingestellt, nach mehr als 8000 Gesprächen und 400 Online-Beratungen. Ein Komitee hat 1200 Anträge auf Zahlungen geprüft - und die meisten anerkannt. Die Zahl der tatsächlichen Opfer dürfte wesentlich höher liegen: Bei den Jesuiten zum Beispiel geht man von 200 möglichen Anspruchsberechtigten aus, gemeldet haben sich bis jetzt jedoch lediglich hundert. In den Medien ist das Thema selten geworden.

Der "katholische Geschmack" des Missbrauchs

Drei Jahre sind jedoch kurz, wenn es um die tatsächliche Aufarbeitung dessen geht, was da im Frühjahr 2010 offenbar wurde: dass die katholische Kirche sich über den "katholischen Geschmack" des Missbrauchs klar werden muss, wie es Mertes formulierte. Sie muss über die dunklen Seiten der zölibatären Lebensform der Priester nachdenken, über das Männerbündische, sich abschottende kirchliche Insiderkulturen, über mögliche Täterprofile und Schweigestrukturen. Das ist langwierig und schmerzhaft, schmerzhafter vielleicht, als sechs Millionen Euro zu zahlen. Und wenn der Druck des Skandals fehlt, gewinnen die an Gewicht, die finden, dass jetzt genug gebüßt und gezahlt sei, die Kirche nicht mehr am Pranger stehen solle.

Und so hat es - über die Ebene des persönlichen Missverstehens hinaus - eine innere Logik, dass sich der Streit, wie radikal die Aufarbeitung zu sein hat, am Projekt des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen entzündet. Alle Personalakten der Priester sollen gesichtet und ausgewertet werden? Für viele Pfarrer ist das der Ausdruck eines Generalmisstrauens. Das konservative Netzwerk katholischer Priester setzte sich geschickt an die Spitze des Unbehagens. Auf der Frühjahrskonferenz der Bischöfe 2012 in Regensburg war der einst so feste und einheitliche Wille dahin, die Personalakten vom KFN aufarbeiten zu lassen. Der Rest war Missvergnügen auf beiden Seiten.

Der Mut der Verzweiflung, der die Bischöfe 2010 antrieb, ist dahin. Gut daran ist, dass man niemandem Verzweiflung wünschen soll, schlecht aber, dass der Gedanke wieder die Oberhand gewinnen könnte, dass Aufklärer im Grunde Nestbeschmutzer sind. Hat nicht der Forensik-Professor Norbert Leygraf erst kürzlich erklärt, die meisten Täter unter den Priestern seien gar keine fixierten Pädophilen? In Kirchenkreisen wurde die Nachricht mit Genugtuung aufgenommen: So schlimm war das alles vielleicht gar nicht.

Klaus Mertes hat in einem gerade erschienenen Buch über das Frühjahr 2010 der katholischen Kirche vorgeworfen, sie orientiere sich immer noch zu sehr am Image-Denken: "Indem sich die Institution mit Image-Fragen befasst, befasst sie sich mit sich selbst und bekommt die Opfer nicht in den Blick - oder sie fallen nach einer kurzen Phase des Schreckens wieder aus der Wahrnehmung heraus." Aber Mertes ist jetzt ja Schuldirektor im Schwarzwald.

In einer früheren Version des Artikels hieß, die Opfer sexueller Gewalt an der Odenwaldschule seien leer ausgegangen. Das ist nicht korrekt. Nach Angaben der Schule haben Opfer bislang Zahlungen in Höhe von insgesamt 300.000 Euro erhalten.

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