Missbrauchsprozess in Duisburg:"Mama hat mir Essen in den Keller geworfen"

Monatelang soll der siebenjährige Julien im Keller gehalten worden sein - nackt, mit einem Bottich als Schlafplatz und von einer Videokamera überwacht. Erst als die Nachbarn die Polizei alarmieren, wird der Junge befreit. Vor Gericht versuchen die Mutter und der Stiefvater, den Missbrauch herunterzuspielen.

Annette Ramelsberger

Der Anruf bei der Polizei kommt am Morgen. Da sei ein Kind allein in einem Haus zurückgelassen worden, sagen die Nachbarn. Die Familie sei weggefahren, offenbar für länger. Aber nur mit zwei Kindern. Es seien aber drei.

Polizeihauptkommissar Harald Meier-Frank fährt die paar Kilometer rüber von Wesel bis zum Städtchen Hamminkeln am Niederrhein. Da stehen sie nun im Vorgarten der Familie D., sehen das Klettergerüst, die Schaukel, den Rasen. Ein normales Haus in einer normalen Gegend. Der Kommissar geht um das Haus herum. Kein Licht, kein Fenster offen. Man hört auch nichts. Er ruft beim Jugendamt an. "Wir waren uns nicht sicher, ob was dran ist oder ob das Verleumdungen sind", sagt Judith Mertesacker, die an dem Tag Notdienst hat.

"Wir gehen da rein", sagt der Polizist. "Wir rufen erst die Mutter an", sagt Mertesacker. Die geht auch sofort an ihr Handy. Sie wolle jetzt gleich den kleinen Julien sehen, sagt Mertesacker. Die Mutter sagt, ihr Mann sei mit den Kindern im Wald, sie könne ihn auch nicht erreichen, offenbar habe er keinen Empfang. Kurz darauf ruft ein Mann bei Judith Mertesacker an, Kinderlärm im Hintergrund. Der Mann ruft in den Lärm hinein: "Sag mal, dass du hier bist, Schisser." Das reicht der Frau vom Jugendamt nicht.

Sie gehen jetzt rein. Durch die Kinderzimmer oben, das Wohnzimmer unten, am Ende steigen sie die Treppe in den Keller hinunter. "Wir haben seinen Namen gerufen, aber da war nichts", sagt Mertesacker. "Ich dachte schon: Fehlalarm." Sie gehen nun durch den Kellerflur, alle Türen offen, nur eine versperrt. Der Schlüssel steckt. Der Polizist öffnet die Tür, es ist kalt und feucht und dunkel. Dann macht er das Licht an. Vor ihm auf einem Sofa kauert ein Junge. "Der kuckt uns an, Panik in den Augen", sagt der Polizist. Starr ist der Junge, kein Muskel bewegt sich. Er ist nackt. Das Kind heißt Julien, sieben Jahre alt.

Julien nennt einen Plastikbottich "mein Bett"

Kriminalhauptkommissar Meier-Frank ist ein Schrank von einem Mann. Kantiges Kinn, Bauchmuskeln wie ein Bodybuilder und ein Nacken, der jeden Kopfstoß aushalten würde. Doch jetzt greift er nach diesem Polizeideutsch, mit dem sich die Beamten die Gefühle vom Leib halten: "Ich stand unter dem Eindruck des Geschehens." Später sagt er vor Gericht, was wirklich war: "Ich stand da unten, ich hab' geheult."

Meier-Frank steht in einem Kellerraum, der nur über einen Schacht Licht bekommt. Auf dem Boden ein grauer Plastikbottich, in dem man Mörtel anrührt. Julien wird diesen Bottich später "mein Bett" nennen. Sein Zimmer oben sei karg, funktional gewesen, sagt Judith Mertesacker. "Es wirkte nicht bespielt."

Mertesacker und Meier-Frank stehen als Zeugen vor dem Landgericht Duisburg. Und auch wenn ihre Expedition in den Keller der Familie D. schon eineinhalb Jahre her ist - die beiden wirken noch immer angefasst.

Misshandlung von Schutzbefohlenen in einem besonders schweren Fall

Die Mutter von Julien, Jessica D., und ihr Ehemann Udo D., der Stiefvater des Jungen, müssen sich nun wegen Misshandlung von Schutzbefohlenen in einem besonders schweren Fall verantworten. Der Staatsanwalt wirft ihnen vor, Julien fast ein Jahr lang immer wieder im Keller gehalten zu haben. Er habe in dem Plastikbottich schlafen, in einen Becher urinieren müssen. Seine Hausaufgaben habe er unten machen und dann im Dunkeln sitzen müssen. Das Kind habe bereits unter Lichtmangel gelitten. Die Grundschule monierte lange Fehlzeiten. Auf solch schwere Kindesmisshandlung stehen bis zu zehn Jahre Haft.

Julien hat der Polizei erzählt, er habe im Keller gewohnt. Er hat auch erzählt, dass Udo, sein Stiefvater, früher sehr nett gewesen sei, später aber nicht mehr. Udo habe eine schwere Platte auf den Bottich gelegt, damit er nicht mehr rausklettern konnte. Einmal habe er ihm eine Spinne in den Bottich geworfen, dabei habe er sich doch so vor Spinnen gefürchtet. Ein anderes Mal habe er ihm eine Waffe an den Kopf gehalten.

Über seine Mutter berichtet Julien auch: "Mama hat mir Essen in den Keller geworfen und gesagt: Sonst verreckt er uns ja." Und es habe eine Videokamera gegeben, die ihn ständig beobachtet habe. Wenn all dies stimmt, dann hat im Hause D. Psychoterror geherrscht - als habe sich die neu entstandene Kleinfamilie gegen das "fremde Kind" aus der ersten Beziehung von Jessica D. abschotten wollen.

Mutter und Stiefvater sprechen von Überforderung

Udo und Jessica D., 29 und 28 Jahre alt, halten vor Gericht zusammen. Die beiden schieben sich die Schuld nicht gegenseitig zu. Udo D., gelernter Fußbodenleger, früher Soldat, nimmt seine Frau in den Arm. Mit ihren beiden gemeinsamen Kindern, der zwei Jahre alten Tochter und dem vier Jahre alten Sohn, gehen sie liebevoll um. Das bestätigt das Jugendamt.

Udo und Jessica D. geben zu, dass sie Julien schlecht behandelt haben. Sie bieten Erklärungen: Julien sei nach der Geburt seines Bruders trotzig geworden. Immer wieder habe er auf den Teppich in seinem Zimmer uriniert und gekotet. Einmal habe der Junge mehrere Wochen lang Durchfall gehabt. Die Eltern hätten sich nicht anders zu helfen gewusst, als ihn in den Keller zu schicken.

Der Bottich sei nicht der Schlafplatz von Julien gewesen - er habe nur seine schmutzigen Kleider hineinlegen sollen. Eine Platte hätten sie nie auf den Bottich gelegt. Nur einmal den Plastikdeckel, und auch das nur für zehn Minuten, aus Wut, weil der Kleine wieder renitent gewesen sei. "Wir wollten uns nicht mehr den Willen von Julien aufzwingen lassen", sagt Udo D.

Die Spinne? Ein Wollfussel. Und die Videokamera? Auch das erklären die Eltern: Jessica D. habe zu ihrem Sohn gesagt, er solle keinen Unfug im Keller machen: "Mama sieht alles." Daraus habe sich das Kind wohl die Überwachung zusammenphantasiert.

Udo D. kämpft mit den Tränen, als er erzählt, wie überfordert sie waren. Dass sie nicht wagten, sich ans Jugendamt zu wenden - aus Angst, ihnen würden alle Kinder genommen. Rechtsanwalt Heinz-Hermann Mues, der Udo D. verteidigt, sagt, es gebe keine körperlichen Befunde dafür, dass das Kind im Bottich habe liegen müssen. Nichts an der Wirbelsäule. Auch eine Überwachungskamera sei nicht gefunden worden. Mues will das Gericht davon überzeugen, dass ein minder schwerer Fall von Misshandlung vorliegt. Damit die Eltern nicht ins Gefängnis müssen - denn wer kümmere sich dann um die beiden kleineren Kinder?

"Julien kann Realität von Erfundenem unterscheiden"

Julien lebt heute bei seinem leiblichen Vater. Er besucht die Schule, mit ordentlichem Erfolg. Und er wünscht sich, dass sich alle wieder verstehen. Er würde gerne seine Geschwister sehen.

Dann spricht die Gutachterin. Anja Kannegießer, Diplom-Psychologin, hat Julien zweimal darauf getestet, ob er sich alles nur zusammengereimt hat. Julien sei ein offenes Kind, er habe ein positives Wesen, sagt sie. Davon konnte sich Ende März auch das Gericht überzeugen. Julien war unter Ausschluss der Öffentlichkeit und in Abwesenheit der Angeklagten als Zeuge aufgetreten. Klein, blond, keck. Er hatte dem Richter alle Fragen beantwortet und ihm auch klargemacht, dass sich sein Name nicht französisch, sondern englisch ausspricht.

"Julien kann Realität von Erfundenem unterscheiden", sagt die Psychologin. "Er spricht sehr vertraut über den Keller", sagt sie. Er habe von "meinem Keller" geredet und von dem Bottich als "meinem Bett". Im Keller sei er immer nackt gewesen. Er habe die Arme um sich geschlungen, weil es so kalt war. Bei Gewitter habe er Angst gehabt vor dem Wasser, das den Schacht hinabgeflossen sei. Es gebe keinen Hinweis darauf, dass Julien die Ereignisse aufbausche. "Er ging nicht hausieren damit", sagt Kannegießer. Sie könne bei dem Kind "keine Belastungsmotivation erkennen" und werte die Aussage als "Erlebnis-basiert".

Urteil wird nach Ostern erwartet

Anwalt Mues und sein Sohn, der Frau D. vertritt, stellen den Antrag, ein Gutachten erstellen zu lassen, ob der Paragraph 21 des Strafgesetzbuches zutrifft - die Steuerungs- und Einsichtsfähigkeit der Eltern sei durch die schwierige Situation beeinträchtigt gewesen. Das müsse den Strafrahmen vermindern. Richter Manfred Winter lehnt den Antrag ab. Paragraph 21 greift nur, wenn der Angeklagte "wegen einer krankhaften seelischen Störung, einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung oder wegen Schwachsinns" unfähig war, das Unrecht der Tat einzusehen. Darauf deutet nichts hin.

Juliens Mutter und sein Stiefvater spazieren nach der Verhandlung ein wenig durch die Fußgängerzone von Duisburg. Sie haben noch schnell eingekauft - Spielsachen für die beiden gemeinsamen Kinder. Aus ihrer Einkaufstüte ragt der rote Griff eines Holzspielzeugs.

Das Urteil soll nach Ostern fallen.

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