Missbrauchsfall von Staufen:Das Beste wäre, sie hätten sich nie getroffen

Am Ende einer beispiellosen Prozessserie ist in Freiburg das Urteil gegen die beiden Haupttäter gefallen. Der Richter zeichnet ein Bild zweier Verbrecher, die auf je eigene Weise voneinander abhängig waren.

Von Ralf Wiegand, Freiburg

Es ist vorbei. Seit April standen in Gerichten in Freiburg, Karlsruhe und Kiel sieben Männer und eine Frau vor Gericht, alle verbunden über ein pädokriminelles Netzwerk, das Ermittler so - zumindest in Baden-Württemberg - zuvor noch nicht enttarnt hatten. Opfer waren ein heute sechs Jahre altes Mädchen und ein heute zehn Jahre alter Junge. Beide waren von Berrin. T. und deren Lebensgefährten Christian L. sexuell schwer missbraucht worden. Den Jungen - den Sohn von Berrin T. - verkaufte das Paar zudem über das Darknet an andere Männer, damit diese ihn vergewaltigen konnten.

Am Ende der beispiellosen Prozessserie sind nun die Urteile gegen die Haupttäter gesprochen worden: Berrin T., 48, muss für zwölf Jahre und sechs Monate in Haft. Ihr Partner Christian L., 39, wurde zu zwölf Jahren Gefängnis verurteilt, das Gericht ordnete bei ihm Sicherungsverwahrung an. L. kaute ungerührt Kaugummi, T., starrte ins Leere, während der Vorsitzende Richter Stefan Bürgelin die Urteile begründete. Emotionen hatten die beiden Angeklagten zu keinem Zeitpunkt in dem elf Verhandlungstage dauernden Prozess gezeigt.

In den Wochen zuvor hatte das Freiburger Landgericht, ebenfalls jeweils unter dem Vorsitz von Richter Bürgelin, vier Männer verurteilt, die den Jungen tatsächlich missbraucht hatten: den 41-jährigen Hilfsarbeiter Markus K. aus dem Breisgau zu zehn Jahren und Sicherungsverwahrung; den 50-jährigen Bundeswehrsoldaten Knut S., stationiert im Elsass, zu acht Jahren, den Schweizer Jürgen W., 37, zu neun Jahren und Sicherungsverwahrung sowie den 33-jährigen Telekommunikationstechniker Javier G. D. aus der Nähe von Barcelona zu zehn Jahren.

In Karlsruhe wurde zudem ein 44 Jahre alter Mann aus Schleswig-Holstein zu acht Jahren und Sicherungsverwahrung verurteilt, weil er sich mit dem Staufener Paar bereits zum Missbrauch des Jungen verabredet hatte und zuvor Tötungsfantasien geäußert hatte. In Kiel schickte ein Gericht einen arbeitslosen Mann aus Neumünster für sieben Jahre und drei Monate hinter Gitter, weil er seine eigene Tochter sieben Mal missbraucht hatte. Er war durch einen Hinweis von Christian L. aufgeflogen, der den Täter aus dem Darknet kannte.

Das Freiburger Landgericht pendelte sich mit dem Strafmaß für Christian L. und Berrin T. zwischen den Anträgen der Verteidigung und der Staatsanwaltschaft ein, die vierzehneinhalb Jahre für die Frau und dreizehneinhalb Jahre plus Sicherungsverwahrung für ihren früheren Lebensgefährten gefordert hatte. Für solch schweren sexuellen Missbrauch, wie er in Staufen vorgekommen ist, sieht das Gesetz einen Strafrahmen von bis zu 15 Jahren vor.

Tat um Tat schilderte Richter Bürgelin in seiner Urteilsbegründung noch einmal die vielen widerlichen Details. Das kleine Mädchen, das T. und L. zuerst missbraucht hatten, und später T.s Sohn wurden auf besonders schwere Weise vergewaltigt, sie wurden wie Ware gehandelt, beleidigt, erniedrigt, verängstigt, verletzt, zur Schau gestellt, belogen. Die Täter überhörten ihr Weinen und brachen ihren Willen. Mehr als 50 solcher Taten gelten als erwiesen, die Staatsanwältin Nikola Novak glaubt aber, dass der auf fast selbstgefällige Art geständige L. dennoch längst nicht die ganze Wahrheit erzählt hat: "Er hat sich täglich mit Missbrauch beschäftigt, war jeden Tag deswegen im Internet. Wenn er alles erzählen würde, was er dort sieht, würden wir Jahre hier sitzen."

Der Richter lobte ihn für seine Funktion als "Kronzeuge"

Die Voraussetzungen, um den Strafrahmen auszuschöpfen, den das Gesetz für solche Fälle vorsieht, waren übererfüllt: Allein für schweren sexuellen Missbrauch von Kindern können bis zu 15 Jahre Haft verhängt werden; in Staufen kamen noch andere Delikte hinzu wie schwere Zwangsprostitution oder Menschenhandel. Die Staatsanwältin sagt, sie sei anfangs etwas blauäugig gewesen: Dass es eine solche Form von Kinderhandel vielleicht in Osteuropa gebe, sei ihr bewusst gewesen; dass es in der Nähe von Freiburg passieren könnte, "hatte ich so nicht für möglich gehalten".

Dass man nun sehr viel weiß über diesen Ring von Gewalttätern, ist auch Christian L. zu verdanken, der dafür mit einer milderen Strafe davonkommt. Der Richter lobte ihn in seiner Urteilsbegründung lang und ausführlich, beinahe überschwänglich, für seine Funktion als "Kronzeuge". L. habe Taten verhindert, bei der Überführung von Tätern geholfen, sei durch ganz Deutschland gefahren worden, um seine Aussagen zu machen, habe bei der Aufklärung "weder sich noch andere geschont". Das Gesetz sieht für Angeklagte, die Hilfe zur Aufklärung oder Verhinderung von schweren Straftaten leisten, einen deutlichen Strafabschlag vor. Die Freiburger Jugendkammer, vor der verhandelt wurde, billigte L. drei Jahre weniger als die mögliche Höchststrafe zu, würdigte seine "schwierige Lebensgeschichte" und die Tatsache, dass sich L. sich selbst auf die Sicherungsverwahrung eingelassen habe, strafmildernd.

Ein notorischer Manipulator, Lügner, Gewalttäter und Kinderschänder

In den Medien, so merkte Richter Bürgelin an, seien alle bisherigen Urteile im Staufen-Komplex als zu milde diskutiert worden, "aber sehen Sie es einmal so: Für jemanden, der das nicht absitzen muss, sind zwölf Jahre wenig. Für jemanden, der sie verbüßen muss, ist es lang." Christian L. hat vor Gericht durch seine Strategie, die auch Staatsanwältin Novak rückblickend als glaubwürdige Selbstreflexion und außergewöhnliche Mitarbeit des Angeklagten würdigte, angesichts der Taten offenbar das Maximum erreicht.

Christian L. und Berrin T. spielten in der pädokriminellen Unterwelt, in der sie von 2015 bis zur ihrer Festnahme im September 2017 operierten, wenn vielleicht auch unbewusst, sogar mit dem Leben des Kindes: Der spanische "Kunde" des Paares soll, behauptet zumindest L., in einem Video aufgetaucht sein, in dem ein Mädchen stranguliert und getötet worden sei. Die Staatsanwaltschaft ermittelt, allerdings ist ein solches Video bisher nicht gefunden worden. Außerdem wird in Belgien gegen neun Männer wegen des Besitzes von Kinderpornografie ermittelt, in diesem Kreis sollen ebenfalls Bilder des Jungen aus Staufen kursiert haben. L. soll diese Ermittlungen mit seinen Aussagen sogar ausgelöst haben.

Der Spanier Javier G. D. soll dem Paar aus dem Breisgau angeboten haben, sie in einen internationalen Pädophilenring zu bringen, was L. ablehnte. Er habe sich Sorgen um die Sicherheit seiner Freundin und deren Sohnes gemacht. Und schließlich hatte L. Kontakt zu Männern, die von der Tötung von Kindern zumindest fantasierten und den Jungen aus Staufen gerne umgebracht hätten, um sich sexuell zu befriedigen. Mindestens ein Kunde hat den Jungen viel brutaler missbraucht, als es vorher zwischen L. und dem Mann abgespochen war. Dass der Junge noch lebt, ist demnach wohl ein großes Glück.

Richter Bürgelin hält es für möglich, dass Christian L. diesmal eine Therapie annimmt. Aber wie glaubwürdig ist das? L. hat sich schon in der Vergangenheit oft als reuig dargestellt - und dann doch als besonders unbelehrbar erwiesen. 2010 war er wegen des mehrfachen Missbrauchs einer Jugendlichen und des einmaligen Missbrauchs eines kaum drei Jahre alten Kindes verurteilt worden. Auch zuvor war er schon durch den Besitz von Kinderpornos aufgefallen, wegen Betrugs in zig Fällen verurteilt worden. Immer gelobte er Besserung, gestand, gab sich therapiewillig, entschuldigte sich. An nichts hielt er sich: Ein Mal besorgte er sich noch am selben Tag, an dem die Polizei seinen Computer beschlagnahmte, einen neuen Rechner und begann - selbst während laufender Ermittlungen - mit dem Sammeln von Kinderpornos. Die Therapie nach der letzten Verurteilung nahm er nicht ernst. Seine Taten beging er sozusagen unter Aufsicht der Behörden, die ihn für rückfallgefährdet hielten und deshalb nach verbüßter Haft von vier Jahren und drei Monaten überwachten.

Es hat ihn nicht davon abgehalten, Berrin T. dazu zu überreden, erst das Kind einer Freundin zu missbrauchen, ein dreijähriges, geistig und körperlich unterentwickeltes Mädchen, und dann T.s Sohn, von dem sich Christian L. "Papa" nennen ließ, zu vergewaltigen und zu verkaufen. Er erschlich sich durch Lügen ein für ihn günstiges psychologisches Gutachten und gab auch nicht auf, als der Junge zeitweise in einer Pflegefamilie war. Er ist ein notorischer Manipulator, Lügner, Gewalttäter und Kinderschänder, der bisher noch nie ein Versprechen eingehalten hat. Allein das Videomaterial, das dem Gericht vorlag, in Ton und Bild in "außergewöhnlich guter Qualität", wie Bürgelin feststellte, hätten als Beweis ausgereicht, L. zu verurteilen. Dafür hätte es sein Geständnis nicht gebraucht.

"Kein anderes Video gesehen, auf dem das Kind solche Schmerzen erlitten hat"

Berrin T., die Mutter des missbrauchten Kindes, war hingegen strafrechtlich bisher ein unbeschriebenes Blatt. Zur Aufklärung beigetragen hat sie nichts. Sie hat ihrem eigenen Sohn zudem schlimmste Schmerzen zugefügt in einer Art, wie es offenbar nicht einmal einer der Vergewaltiger getan hat. "Wir haben kein anderes Video gesehen, auf dem das Kind solche Schmerzen erlitten hat" sagte der Richter. Vor Gericht, wo sie nur unter Ausschluss der Öffentlichkeit ausgesagt hatte, bezog sie sich selbst kühl "auf ihre prozessualen Rechte", sagte der Richter, und schwieg auf viele Fragen. Dass das Gericht dennoch auch hier deutlich unter der Höchststrafe blieb, begründete der Richter mit der schwierigen Lebensgeschichte der Frau, ihren intellektuellen Defiziten, Depressionen, mit den schweren Haftbedingungen inklusive anfänglicher Suizidgedanken. Sie sei alleinerziehend gewesen, überfordert, verschuldet, geständig und nicht vorbestraft. Und die Initiative für die Missbräuche seien eindeutig "von Christian L. ausgegangen", sagte der Richter.

Am besten wäre es wohl gewesen, wenn Berrin T. und Christian L. sich einfach nie begegnet wären. Ohne ihn, hatte Berrin T.s Verteidiger im Plädoyer gesagt, säße seine Mandantin gar nicht auf der Anklagebank. "Ohne Sie", sprach der Richter die Angeklagte nach dem Urteil direkt an, "säße aber auch Christian L. nicht hier." Sie hätte die Taten verhindern, ihren Sohn und die Tochter ihrer Bekannten schützen können.

Das Urteil gegen die Mutter ist rechtskräftig, alle Parteien verzichteten auf Rechtsmittel. Sie wolle ihrem Jungen signalisieren, sagte der Anwalt von Berrin T., "dass es jetzt vorbei ist".

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