Es gibt in dieser Dunkelwelt, die das Landgericht Freiburg erforschen muss, seitdem dort die Fälle schwersten sexuellen Missbrauchs von Kindern verhandelt werden, auch helle Flecken. Dem Jungen, der jahrelang von seiner Mutter und deren Lebensgefährten missbraucht und fremden Männern zum Missbrauch angeboten wurde, "geht es gut. Das ist mein Eindruck, das bekomme ich auch von den betreuenden Personen und vom Vormund gemeldet", sagte der Sachbearbeiter des Jugendamts, der den Fall betreut und am Donnerstag als Zeuge vor Gericht aussagte. Der Junge, er wird bald zehn Jahre alt, habe einen guten Kontakt zu den Menschen, die sich jetzt um ihn kümmern, sehe seine erwachsene Halbschwester regelmäßig. "Doch", sagte der 51-jährige Mann vom Jugendamt Breisgau-Hochschwarzwald, "ihm geht's gut."
Was dem Jungen geschehen ist, ist kaum in Worte zu fassen und muss doch bis ins Detail besprochen werden vor Gericht. Am 16. September 2017 ist mit der Festnahme seiner Mutter Michaela Berrin T. und deren Lebensgefährten Christian L. das Martyrium beendet worden, seitdem ist das Kind an einem anderen Ort. Gegen Mutter und Stiefvater wird derzeit in Freiburg verhandelt. Vier Urteile gegen Männer, die den Buben missbraucht haben, sind schon gefällt worden, gegen alle gab es hohe Haftstrafen, in drei Fällen wurde die anschließende Sicherungsverwahrung angeordnet. Sie alle haben das Kind, das sie wie Ware übers Darknet gebucht hatten, auf unvorstellbare Weise erniedrigt, verletzt, vergewaltigt. An jenem 16. September 2017 begann - das ist der helle Fleck - der bessere Teil im Leben dieses Kindes.
Missbrauchsfall in Staufen:Wie ein Sachbearbeiter seines verkorksten Lebens
Christian L., der Hauptangeklagte im Missbrauchsfall von Staufen, spielt sich vor Gericht als Aufklärer auf. Psychogramm eines schamlosen Selbstdarstellers.
Vor Gericht geht es nun um die Schuld der beiden geständigen Hauptangeklagten, Michaela Berrin T., 48, und Christian L., 39. Beide haben ausgesagt, L. umfassend, fast hemmungslos und öffentlich, T. nicht öffentlich und dem Vernehmen nach dürftig und zögerlich. An ihrer Täterschaft besteht kein Zweifel mehr nach sieben Verhandlungstagen. Außer dem Sohn der Frau haben sie noch die kleine Tochter einer Bekannten missbraucht. Das Gericht kümmert sich aber auch um die Frage: Hätten sie früher gestoppt werden können? Was haben das Jugendamt, die Polizei, die Familiengerichte, die mit diesem Fall befasst waren, was hat Christian L.s Therapeut getan? Was haben sie womöglich unterlassen? Wäre irgendetwas zu verhindern gewesen, behördlicherseits, von Amts wegen, durch den Staat? Was lässt sich lernen für die Zukunft?
Es ist ein schmerzhafter Prozess, auch für die, die körperlich unversehrt blieben, wie den Sachbearbeiter vom Jugendamt. Derzeit wird im Stadium von Vorermittlungen untersucht, ob das Jugendamt - und damit er als verantwortlicher Sozialarbeiter - Hinweise auf möglichen Missbrauch des Jungen falsch eingeschätzt haben könnte. "Ich hätte mir gewünscht, ihn besser schützen zu können, aber das war ihm und uns nicht vergönnt", sagte der Zeuge.
Konkret geht es um einen am 6. Juni 2017 ergangenen Anruf der Klassenlehrerin des Jungen, die dem Jugendamt meldete, was ihr die Mutter eines Klassenkameraden erzählt habe: Der Junge soll dem Mitschüler erzählt haben, dass er sich "ausziehen und anschauen lassen" müsse. War das ein Hinweis auf sexuellen Missbrauch, den das Amt den Ermittlungsbehörden hätte mitteilen müssen? Das Jugendamt wusste, dass L. vorbestraft war, unter anderem wegen des Besitzes von Kinderpornografie und fortgesetzten Missbrauchs eines 13-jährigen Mädchens, und dass er rückfallgefährdet war. Das Amt wusste, dass er als Freund der Mutter Zugang zu dem Jungen in deren Wohnung in Staufen hatte, dass er gegen alle Auflagen zumindest zeitweise sogar dort lebte. Deswegen hatte das Jugendamt das Kind vorübergehend in eine Pflegefamilie gegeben. Die Sorge um die Sicherheit des Jungen war schon ohne den Anruf der Lehrerin da gewesen.
War das nun ein Hinweis, der dazu hätte führen müssen, das Kind körperlich oder psychologisch untersuchen zu lassen oder zu befragen? Hätte es Anlass sein müssen, wenigstens die Informationskette vom Hörensagen rückwärts zu gehen, also nach der Klassenlehrerin auch die Tippgeberin und vielleicht deren Sohn zu befragen? Hätte man dieses Indiz vielleicht an jenes Familiengericht weiterleiten sollen, das kurz darauf darüber entschied, unter welchen Bedingungen Christian L. noch Umgang mit dem Kind haben durfte? Hätte das Jugendamt dagegen kämpfen müssen, dass der Junge in der "Familie" bleibt?
All das ist nicht geschehen. Der Sozialarbeiter, der vor Gericht mit einem Anwalt als Zeugenbeistand erschien, hat die Dienstvorschriften eingehalten und gemäß den Leitlinien gehandelt, die es für solche Fälle gibt. Das Kind nicht direkt ansprechen, damit es sich nicht abkapselt aus Angst; die Mutter nicht ansprechen, damit kein Druck auf das Kind ausgeübt werden kann. Es hat eine Fallkonferenz stattgefunden, eine "Risikoabschätzung". Der Hinweis wurde als "vage und zeitlich nicht einzuordnen" eingestuft, sagte der Sachbearbeiter. Ein privater Träger sollte, irgendwann nach den Sommerferien, eine Präventionsveranstaltung in der Klasse anbieten. So hoffte das Jugendamt, den Jungen vielleicht indirekt dazu zu bringen, sich gegenüber Dritten zu öffnen. Der Hinweis der Lehrerin verließ nie das Jugendamt, Maßnahmen wurden bis zur Festnahme im September nicht ergriffen.
Der mangelnde Informationsaustausch zwischen den beteiligten Institutionen ist augenfällig. Nie hatte jemand den Gesamtüberblick, auch nicht jene Familienrichterin, die ebenfalls als Zeugin erscheinen musste. Sie hatte die Inobhutnahme des Kindes damals beendet, ohne nur im geringsten über die Gefahr, die von Christian L. ausgehen könnte, in Kenntnis gesetzt worden zu sein. Sie wusste kaum etwas über die Geschichte des Jungen, der in der Schule als aggressiv aufgefallen war und sogar wegen des Verdachts auf Autismus untersucht worden war. Sie wusste nichts von den Depressionen der Mutter. Sie hatte nicht einmal das Urteil, in dem die Taten aufgeführt sind, für die L. vier Jahre und drei Monate in Haft musste. Sie musste sich auf das verlassen, was man ihr erzählte, und darin war T. offenbar gut: Als "liebende, kämpfende Mutter", die alles für den Schutz ihres Sohnes tun würde und ihn unbedingt zurückhaben wollte, präsentierte sie sich vor Gericht. Die Familienrichterin, im Gericht als Zeugin sichtlich bewegt, gab das Kind in die Familie zurück. Heute kämen ihr die Beteuerungen der Mutter "geradezu grotesk" vor, sagte sie.
Da haben zwei ihre Zeit abgesessen: Therapeut und Proband
Zu ihrer Entscheidung hatte auch die Bescheinigung jenes Psychologen beigetragen, bei dem der vorbestrafte L. auf Anweisung des Gerichts Therapiestunden nehmen musste. Der Psychologe bescheinigte dem Probanden auf dessen eigenen Wunsch, dass von ihm "keine Gefahr für Jungen" ausgehe. Er habe eine gute Sozialprognose, argumentierte Michaela Berrin T. sogleich vor dem Familiengericht, "das zeigt doch auch die Bescheinigung".
Nur: Diese Bescheinigung hätte der Psychologe gar nicht ausstellen dürfen, behauptet die Forensische Ambulanz Baden (FAB), die solche Therapien auf Anweisung von Gerichten umsetzt. Es widerspreche den Sicherheitsmaßnahmen der FAB, teilte die Einrichtung der SZ mit, dass Berichte oder Atteste direkt von den Therapeuten ausgestellt werden. Sie müssen an die Leitung der FAB geschickt werden, dort würden sie geprüft, um etwa Gefälligkeitsgutachten zu verhindern. Von dem heute 70-jährigen Psychologen, der diesen Schein ausgestellt hat, hat sich die FAB getrennt. L. hatte nach Angaben der Staatsanwaltschaft nicht einmal die Hälfte der Therapiestunden besucht.
Als Zeuge vor Gericht gab der Psychologe ein Bild des Jammers ab. Zusammenfassen lässt sich das so: Da haben zwei ihre Zeit abgesessen, Therapeut und Proband, weil es ein Gericht eben angeordnet hat. Den Staat, rechnete die Staatsanwaltschaft vor, kostete diese Therapie 20 250 Euro.
Mit dem Urteil gegen Christian L. und Michaela Berrin T. ist noch im Juli zu rechnen.