Missbrauchs-Studie der katholischen Kirche:Wenn beten nicht mehr hilft

Prozess um Missbrauchsvorwurf im Beichtstuhl

Empörte Gläubige, ratlose Bischöfe und ein schweigender Papst: Doch vielleicht erklärt der Vatikan jetzt Missbrauch zum Verbrechen.

(Foto: David Ebener/dpa)
  • Der Essener Bischof Franz-Josef Overbeck sieht "ein großes Versagen", sein Passauer Kollege Stefan Oster fordert eine "radikale Form der Selbstkritik".
  • Neue Vorwürfe erschüttern sogar die Glaubwürdigkeit des Papstes.
  • Der Vatikan könnte nun seine Archive öffnen.

Von Matthias Drobinski

Kardinal Karl Lehmann, der im Frühjahr gestorbene Bischof von Mainz, war ein kluger Mann - in dieser Angelegenheit aber irrte er fundamental. "Den amerikanischen Schuh müssen wir uns nicht anziehen," sagte 2002 der damalige Vorsitzende der katholischen Deutschen Bischofskonferenz dem Spiegel . Gerade hatte der Boston Globe aufgedeckt, dass im US-Bistum Boston Dutzende Kleriker Hunderten Kindern und Jugendlichen sexuelle Gewalt angetan hatten und dies über viele Jahre hinweg vertuscht worden war. Das sei ein amerikanisches Problem, führte Lehmann aus. Dabei waren auch da schon zahlreiche Missbrauchsfälle in Deutschland bekannt geworden - Einzelfälle, hieß es damals.

Nun, 16 Jahre später, erschüttert der Skandal die katholische Kirche weltweit und bis hinauf zum Papst; erschüttert sie in ihren heiligsten Grundsätzen. Kardinal George Pell, des Papstes Finanzminister, steht in Australien vor Gericht, weil er Minderjährige bedrängt haben soll; der dortige Erzbischof von Adelaide ist schon zu einem Jahr Haft verurteilt. Gerade ist der US-Bischof Michael Bransfield zurückgetreten, der Erzbischofsstuhl von Kardinal Wuerl in Washington wackelt, den Bundesstaat Pennsylvania bewegt der Report einer unabhängigen Kommission, dem zufolge über 70 Jahre hinweg mehr als 300 katholische Priester Jungen und Mädchen sexuell missbrauchten. Die australische Royal Commission hat fast 2500 Opfer identifiziert; in Chile hat eine ganze Bischofskonferenz den Rücktritt angeboten.

Und in Rom hat der ehemalige Papst-Botschafter in Washington, Carlo Maria Viganò, Papst Franziskus zum Rücktritt aufgefordert, weil er den Missbrauchsvorwürfen gegen den Washingtoner Kardinal Theodore McCarrick zunächst nicht nachgegangen sei. Die Krise ist ganz oben angekommen. Vor wenigen Wochen erst hat Franziskus in einem dramatischen Brief "Scham und Reue" angesichts der vieltausendfachen Gewalt bekundet - und doch wirkt der Pontifex von der Wucht der Skandale gelähmt, die da die Kirche überrollen.

Ein Forscherverbund mehr als 38 000 Akten durchforstet

Kaum anders ergeht es den deutschen Bischöfen, deren Studie zur sexualisierten Gewalt in der Kirche diese Woche die Zeit und der Spiegel in Teilen vorab veröffentlichten; die hilflosen Äußerungen der Erschütterung und Scham einiger Bischöfe gingen in der Aufregung genauso unter wie die Empörung des Missbrauchsbeauftragten und Trierer Bischofs Stephan Ackermann über die Durchstecherei.

Der Bericht selbst zeigt die Möglichkeiten und Grenzen der Selbstaufklärung einer Institution. Mehr als vier Jahre lang hat ein interdisziplinärer Forscherverbund mehr als 38 000 Akten durchforstet, mit Betroffenen und - vergleichsweise wenigen - Tätern geredet, hat herauszufinden versucht, wie sehr Opfer unter den Folgen der Taten leiden und was die Ursachen dafür sein könnten, dass die Täter so oft geschützt und so selten bestraft wurden. Es sei ein großer Fortschritt, dass die Perspektive der Betroffenen einen wichtigen Platz in der Studie einnehme, heißt es bei den Kennern des Forschungsprozesses. Das wahre Ausmaß der sexualisierten Gewalt in der katholischen Kirche erfasse der Bericht aber bei Weitem nicht.

Das liegt an den Kompromissen, die das Team 2014 eingegangen ist, als die Untersuchung erneut ausgeschrieben wurde, nachdem ein erster Versuch mit dem Kriminologen Christian Pfeiffer krachend am Streit um die Freiheit des Forschers gescheitert war. Das Konsortium aus Mannheim, Heidelberg und Gießen akzeptierte, was Pfeiffer abgelehnt hatte: Es gab keinen direkten Zugang zu den kirchlichen Personalakten; die Forscher drückten Kirchenmitarbeitern Fragebögen in die Hand, die gingen dann das Archiv durch. Die Kirche gab den Zugriff auf ihre Akten nicht auf, auch um jene Bischöfe von dem Projekt zu überzeugen, die am liebsten gar keinen Forscher in der Nähe ihres Archivs gesehen hätten. "Ich hätte mich darauf nicht eingelassen", sagt einer, der in der Erforschung von Missbrauch erfahren ist. Er kenne sogar einen Fall, im dem der Leiter des Archivs einer der Beschuldigten war.

Nicht richtig pädophil, aber vereinsamt, alkoholabhängig und sexuell unreif

Auch sonst aber liegt in den Akten nur bedingt die Wahrheit. Als das Erzbistum München 2010 alle Akten untersuchen ließ, offenbarten sich umfangreiche Vernichtungsaktionen und ein unfassbar laxer Umgang gerade mit brisanten Akten - einige fand man auf dem Dachboden eines Mitarbeiters, nach dessen Tod. In der jetzigen Studie berichten die Forscher ebenfalls von Aktenvernichtungen, in zwei Bistümern seien sie systematisch gewesen. Sie sprechen von einer "Hellfeldstudie"; dem Dunkelfeld des Missbrauchs nähert sie sich nicht an. Die Zahlen von 1670 Tätern und 3677 Betroffenen sind Mindestannahmen. Nach SZ-Informationen kam eine Beraterin der von der Bischofskonferenz geschalteten Hotline mit rund 50 Verdachtsfällen zu den Forschern - zu spät, um Eingang in die Studie zu finden.

Ein bisschen Licht ins Dunkel hätte eine Untersuchung bringen können, wie sie eine unabhängige Kommission in den Niederlanden 2011 in Auftrag gab. Dort fragten Forscher insgesamt 34 000 Menschen, ob ihnen je ein sexueller Übergriff widerfahren sei, und wenn ja, von wem. Die Auswertung ergab, dass in dem Land mit 17 Millionen Einwohnern bis zu 20 000 Kinder und Jugendliche Opfer sexueller Übergriffe in der katholischen Kirche und ihren Einrichtungen wurden. Eine solche Studie fand in Deutschland nicht statt. Auch wurden die Orden nicht einbezogen, die viele Internate und Heime betrieben - Orte, wo es besonders oft Gewalt gab.

So wird die Studie kaum den von vielen Bischöfen erhofften Frieden bringen, wenn sie am 25. September in Fulda offiziell vorgestellt wird. Andere Forschungs- und Aufarbeitungsprozesse waren da erfolgreicher, beim Benediktinerkloster Ettal zum Beispiel oder den Regensburger Domspatzen - auch, weil dort externe und unabhängige Ermittler eine größere Rolle spielten. Die Verbindung zum Auftraggeber wird, bei aller seriös geleisteten Arbeit, die Zweifel nie ganz ausräumen können.

Wohl aber wird sie die Debatte befeuern, inwieweit die hohe Zahl der Missbrauchsfälle und die Neigung zum Vertuschen nicht doch mit einem übersteigerten Verständnis von der unfehlbaren Institution und der Heiligkeit des zölibatär lebenden, männlichen Priesters zu tun hat. Sexualisierte Gewalt kommt überall vor, in Sportvereinen wie auch der evangelischen Kirche - die Anfälligkeit katholischer Milieus ist jedoch auffällig. Der Essener Forensiker Norbert Leygraf untersuchte 2012 die Akten 80 einschlägig straffällig gewordener katholischer Priester und fand heraus, dass die große Mehrheit nicht fixiert pädophil war, wohl aber vereinsamt, alkoholabhängig, sexuell unreif, psychisch labil. Der Zölibat kann ein Fluchtort sein für Männer, die nicht mit ihrem Leben, ihrer Sexualität zurechtkommen - und ihre Probleme heiligen wollen. Er befördert Männerbünde, die sich gegenseitig schützen. Und eine Kirche, die sich als Hüterin des Heils sieht, wird eher dazu neigen, Taten zu vertuschen, um unbeschädigt dazustehen.

Den ersten Schritt der Veränderung hat Franziskus in seiner Programmschrift "Evangelii Gaudium" beschrieben: Die Kirche darf nicht blank und unversehrt bleiben, sie muss lernen, sich verbeulen zu lassen, um der Menschen willen, für die sie da ist. Sie wird in den kommenden Jahren einige Beulen abbekommen, will sie ihre Glaubwürdigkeit zurückgewinnen.

Eine Möglichkeit wäre, die vatikanischen Archive zu öffnen. Im Jahr 2001 ordnete Kardinal Joseph Ratzinger, damals Präfekt der Glaubenskongregation, an, dass weltweit Kopien aller Unterlagen über sexuelle Gewalt von Klerikern gegen Kinder und Jugendliche an seine Behörde geschickt werden müssten. Forschern und Strafverfolgern sind sie nicht zugänglich.

Die Kirche könnte auch ihr Gesetzbuch ändern, den Codex Iuris Canonici - dort gilt sexueller Missbrauch bislang als Verfehlung und nicht als Verbrechen. Und dann müsste die Debatte über den Zölibat und das Selbstverständnis der Priester geführt werden, wie das inzwischen so mancher Bischof fordert, über das Verhältnis der katholischen Kirche zur Sexualität und zur Homosexualität, zur Verbindung von Religion, Autorität und Macht.

Für Ende Februar 2019 hat nun Papst Franziskus die Vorsitzenden aller nationalen Bischofskonferenzen nach Rom geladen; sie sollen beraten, wie die Kirche sich in einer ihrer tiefsten Krisen verhalten soll, was sie tun muss im Angesicht der traumatisierten, manchmal fürs Leben geschädigten Opfer ihrer Priester. Fünf Monate sind es noch bis dahin, eine lange Zeit - zumal vom 3. Oktober an sich die Bischöfe der Welt in Rom versammeln, um über die Jugend zu reden und über Priesterberufungen. Die sexuelle Gewalt durch Priester an Jugendlichen steht nicht offiziell auf dem Programm. Es dürfte eine höchst eigentümliche Veranstaltung werden.

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