Es war nicht mehr als ein Verdacht, doch die schlimmen Vermutungen bestätigten sich schnell. Im Mai 2023 brachte eine Anzeige bei der Polizei Ermittlungen in Gang: Eine Frau hatte erfahren, dass die eigene Schwägerin ihre 13-jährige Tochter wohl für sexuelle Handlungen im Internet anbiete. Die Fahnder fanden heraus: Über einen Messengerdienst hatte die Mutter tatsächlich mehrere Treffen mit einem Mann vereinbart. Dann schlugen Bundeskriminalamt (BKA) und Landespolizei zu und verhinderten somit einen bereits geplanten weiteren Missbrauch.
Auch die Bundesinnenministerin ist entsetzt von dem Fall, der im neuen Lagebild zu Sexualdelikten gegen Kinder und Jugendliche geschildert wurde. „Solche Verbrechen gehören zu den furchtbarsten und widerwärtigsten Formen der Kriminalität“, sagt Nancy Faeser (SPD) bei der Vorlage des BKA-Berichts diesen Montag. Die Taten träfen mit Kindern und Jugendlichen die Verletzlichsten der Gesellschaft und hinterließen tiefe seelische Wunden, die oft lange nicht heilen könnten. Die Zahl der Fälle und Opfer steigt indes weiter. Laut BKA gingen die Fahnder im vergangenen Jahr insgesamt 16 375 Fällen von sexuellem Missbrauch von Kindern nach – fast sechs Prozent mehr als im Vorjahr und rund 20 Prozent mehr als vor fünf Jahren.
Weil ein Fall mehrere Personen betreffen kann, liegt die Zahl der betroffenen Kinder bis 14 Jahren mit 18 497 sogar noch höher. Hinzu kommen 1200 Fälle des Missbrauchs von Jugendlichen. „Jeden Tag werden in Deutschland 54 Kinder und Jugendliche Opfer von sexuellem Missbrauch“, sagt Faeser.
Das Lagebild beruht auf Daten der Polizeilichen Kriminalstatistik. In der werden die polizeilich ermittelten Fälle sowie strafbare Versuche solcher Taten erfasst. Die Fahnder interpretieren die höheren Zahlen aufgedeckter Fälle zwar auch als einen Erfolg der eigenen Arbeit, sie hängen aber zudem mit der polizeilichen Kontrolltätigkeit und dem Anzeigeverhalten zusammen. „Insofern dürfte es auch aufgrund intensivierter polizeilicher Tätigkeiten im Deliktsbereich in den letzten Jahren zu einer Aufhellung des Dunkelfelds gekommen sein“, heißt es in dem Bundeslagebild. Doch die Fahnder fürchten, dass die wahre Zahl der Opfer dennoch höher liegt, weil viele Fälle gar nicht aufgedeckt werden können. Der Bericht könne „nur die für die Polizei sichtbaren Fälle“ wiedergeben, sagt BKA-Vizepräsidentin Martina Link.
In mehr als der Hälfte der Fälle kennen sich Opfer und Tatverdächtige
Oft stellen die Ermittler eine Vorbeziehung zwischen Tätern und Opfern fest. In mehr als der Hälfte der Fälle kennen sich Opfer und Tatverdächtige, weil sie familiäre Beziehungen haben, befreundet oder bekannt sind oder sich über Organisationen und Gruppen kennen. In anderen Fällen würden Kinder gezielt von den Tätern angesprochen, „um einen sexuellen Kontakt aufzubauen“. Insgesamt haben zwei Drittel der Tatverdächtigen ihren Wohnsitz in der Gemeinde des Tatorts,
Viele Opfer sind zudem sehr jung. Mehr als 2200 Mädchen und Jungen waren zum Zeitpunkt des Missbrauchs jünger als sechs Jahre. Auch Jugendliche selbst werden oft zu Tätern: Dem Bericht zufolge ist fast jeder Dritte der Verdächtigen in Missbrauchsfällen Kind oder Jugendlicher. Drei Viertel der von Missbrauch Betroffenen in allen Altersgruppen sind weiblich.
Auf einen neuen Höchstwert stieg auch die Zahl der Fälle von Herstellung, Verbreitung, Erwerb und Besitz kinderpornografischer Inhalte. Die Fahnder ermittelten 2023 mehr als 45 000 Fälle. Damit verdreifachten sich die Zahlen seit 2019. Der starke Anstieg hängt auch damit zusammen, dass deutsche Behörden immer mehr Hinweise über das US-amerikanische National Center for Missing and Exploited Children (NCMEC) bekommen. Das NCMEC bekommt von Onlinediensten Hinweise auf Verdächtige und leitet sie an die Behörden in Heimatländern der Verdächtigen weiter.
Kerstin Claus, die Beauftragte der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, fordert, den Schutz für Kinder auszubauen. So sollten Schulen bessere Konzepte entwickeln und Vertrauenspersonen als Ansprechpartner stellen. Auch Online-Plattformen müssten das Einhalten von Verboten deutlich strenger überwachen.
Die Zahlen verschärfen auch den Streit über Ermittlungsmöglichkeiten der Behörden. Faeser kritisiert, dass die Täter in „zahlreichen Fällen“ wegen nicht gespeicherter IP-Adressen unentdeckt bleiben könnten. Sowohl die Innenministerin als auch Polizeibehörden fordern schon seit Monaten, dass in Deutschland auch anlasslos Verkehrs- und Standortdaten der Telekommunikation gespeichert werden. Dass Mobilfunk- und Internetanbieter die Daten derzeit nicht speichern müssen, erschwert die Aufklärung von Verbrechen, weil Ermittler nicht auf Daten von Handys in der Vergangenheit zurückgreifen können. Im April einigten sich Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) und Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) daher auf das sogenannte Quick-Freeze-Verfahren: Dabei werden Daten erst dann gespeichert, wenn ein Verdacht auf eine Straftat erheblicher Bedeutung besteht. Dies geht Innenministerium und BKA aber nicht weit genug. Eine finale Entscheidung gibt es darum noch nicht.