Einer der vielen eindringlichen Momente dieser Urteilsverkündung kommt ganz zum Schluss. Christoph Kaufmann spricht zu diesem Zeitpunkt schon zweieinhalb Stunden lang. Strafschärfend habe die Kammer berücksichtigt, setzt der Vorsitzende Richter an und blickt zum Angeklagten: "Es ist praktisch gar nicht möglich, die ganzen Tatfolgen mitzuteilen."
Richter Kaufmann sagt, er versuche es trotzdem. Er nennt den Vornamen der jeweiligen Frau und berichtet dann knapp, wie der jahrelange sexuelle Missbrauch durch Hans Bernhard U. in Kindheit und Jugend noch immer ihr Leben bestimmt. Es sind düstere Schlaglichter aus stundenlangen nicht-öffentliche Aussagen der Frauen. Im dicht besetzten Gerichtssaal 112 ist es ganz still.
Melanie, Ute, Silvia, Nicole, Alexandra, Anke, Elisabeth, Katharina, Angelika, Sina, Natalie, Henrike, Sarah, Clara, Lilian und Lisa ...
Fast alle Frauen, um die es jetzt geht, sind zur Urteilsverkündung gekommen. Kaufmann beginnt, er braucht mehrere Minuten: Schlafstörungen, Depressionen, Panikattacken, Magersucht, mehrwöchige stationäre Klinikaufenthalte, komplexe Posttraumatische Belastungsstörungen, schwere Bindungsstörungen, Herzrasen, Übelkeit, Alpträume. Eine der Frauen verlässt den Raum.
Der Mann, der laut Kaufmann Schuld ist, sitzt äußerlich unbewegt neben seiner Verteidigerin auf der Anklagebank und blickt starr den Richter an. Hans Bernhard U., 70, Priester im Erzbistum Köln - und nach allem, was der Prozess zutage gebracht hat: ein Seriensexualstraftäter seit mehr als 40 Jahren. U. war Jugendseelsorger, Pfarrer, Krankenhausseelsorger. "Für alle Opferzeuginnen hier waren Sie eine absolute Vertrauensperson, ein Ersatzvater, Patenonkel, als Kirchenmann aus kindlicher Perspektive ein Repräsentant Gottes auf Erden, Ihnen haben die Kinder ihre Herzen geöffnet", sagt Kaufmann.
Zwölf Jahre muss U. in Haft, außerdem Schmerzensgeld in Höhe von 5000, 10 000 und 35 000 Euro an drei der neun Frauen zahlen und für Folgeschäden aufkommen.
Die 2. Große Strafkammer des Landgerichts Köln sprach U. schuldig wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in 72 Fällen, wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in 23 Fällen sowie wegen sexuellen Missbrauchs einer Jugendlichen in 15 Fällen. Die 110 Taten sollen sich im Zeitraum von 1993 bis 2018 in Gummersbach, Wuppertal und Zülpich ereignet haben. Nicht angeklagt werden konnten Taten, die U. früher begangen haben soll, ab 1979: die Fälle von vier Frauen sind mittlerweile verjährt.
Geschichten von beeindruckender Ehrlichkeit
U.s Verteidiger habe laut Richter Kaufmann vor Prozessbeginn sogar noch versucht, eine Mutter der Frauen zu beeinflussen. Ihre Tochter habe eine Falschaussage bei der Polizei gemacht, sie solle im Prozess vorsichtig sein und sich besser einen Anwalt nehmen, soll der Düsseldorfer Anwalt Rüdiger Deckers gesagt haben. "Ein übler Einschüchterungsversuch", sagt Richter Kaufmann.
Hans Bernhard U. hatte zu Beginn des Prozesses nur wenige Taten eingeräumt, erst am Ende der Beweisaufnahme erweiterte er sein Geständnis. "Reue oder Schuldgefühle haben wir bei Ihnen nicht festgestellt", so Kaufmann, "dafür einen besorgniserregenden Empathiemangel und narzisstische Züge."
Doch nicht aufgrund seiner "mageren Teilgeständnisse" sei U. nun verurteilt worden, sondern wegen der "außergewöhnlichen Qualität" der Aussagen der 16 betroffenen Frauen. "So unterschiedlich die einzelnen Geschichten waren, sie waren von einer beeindruckenden Ehrlichkeit", sagt Richter Kaufmann. Die Frauen hätten "ohne jede Dramatisierungstendenz ausgesagt - im Gegensatz zu Ihnen. Keine Zeugin hat von Ihnen ein negatives Stereotyp gezeichnet, Sie wurden teilweise ja noch als geliebter Mensch beschrieben." Die Frauen hätten U. "die Maske vom Gesicht gezogen", sagte Kaufmann, "die Geschädigten sind die Heldinnen dieses Verfahrens." Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig, doch die Ermittlungen gegen U. laufen weiter, im Prozess hatten sich neue Verdachtsmomente ergeben. Der Richter sagte: "Wir haben hier noch viele Namen auf dem Zettel."
Kurz nach der Urteilsverkündung verschickte die Pressestelle des Erzbistums Köln eine Stellungnahme, in der das Urteil begrüßt wurde. Es müsse alles getan werden, damit solche Verbrechen nicht mehr passieren können, hieß es vom Bistum: "So werden wir die Kontrolle von straffällig gewordenen Beschuldigten verschärfen."
Durch einen anonymen Hinweis hatte das Erzbistum Köln schon seit 2010 von schweren Vorwürfen gegen Hans Bernhard U. gewusst, eine seiner drei Nichten hatte ihn damals angezeigt. Doch weil die Staatsanwaltschaft Köln die Ermittlungen einstellte, hob auch sein Arbeitgeber die kurzfristige Beurlaubung auf und setzte U. wieder als Krankenhausseelsorger in Wuppertal ein. Noch während seiner Beurlaubung hatte Hans Bernhard U. erneut Mädchen sexuell missbraucht.