Süddeutsche Zeitung

Missbrauch in ehemaligem Wiener Kinderheim:"Da ist jede drangekommen"

Lesezeit: 2 min

Eine irdische Dependance der Hölle: In einem Wiener Kinderheim soll es in den Siebzigerjahren zu Gewaltexzessen und systematischem Kindesmissbrauch gekommen sein. Angesichts des Ausmaßes der Gewalt diskutiert die Politik nun, ob solche Delikte überhaupt noch verjähren sollen.

Michael Frank, Wien

Heute ist das Schloss Wilhelminenberg ein Hotel, dessen Terrasse auf dem Kamm des Wienerwaldes einen traumhaften Ausblick über Stadt und Umgebung bietet. Bis zu den Siebzigerjahren allerdings war das Schloss ein Heim für so genannte Sozialwaisen, und glaubt man den Aussagen einer anwachsenden Zahl von Betroffenen, lebten die jungen Menschen dort in einer irdischen Dependance der Hölle.

Öffentlich gemacht wurden bislang die Aussagen zweier Frauen, heute Ende 40, die den Schilderungen sexuellen Missbrauchs und alltäglicher Quälereien auch noch einen rassistischen Aspekt hinzufügen. Die Berichte über den Kindesmissbrauch in diesem ehemaligen Heim der Stadt Wien haben in Österreich die Debatte um die Verjährung solcher Delikte neu entfacht.

Einer der Kernvorwürfe gegen eine der damaligen Erzieherinnen ist es, Kindern erklärt zu haben, als "Zigeuner" hätten sie nicht "das Recht, zu leben". In der Tageszeitung Kurier schildern Betroffene, sie seien mit Filmen und Fotos aus Konzentrationslagern des NS-Regimes konfrontiert worden. "Dunkle" Menschen seien dort umgebracht worden, habe man ihnen gesagt und sie gefragt, "ob wir (die Kinder) jetzt endlich verstehen, dass wir da auch hingehören und dass wir nicht das Recht haben, zu leben".

Verdacht auf ein System von Kinderprostitution

Schilderungen von Prügeleien, nächtlichem Schlafentzug und Psychoterror gipfeln in dem Verdacht, dass hinter Massenvergewaltigungen durch Erzieher und fremde Männer ein regelrechtes System von Kinderprostitution gestanden haben könnte. Besonders kleine Mädchen seien betroffen gewesen. Erzieherinnen hätten ihnen Strumpfbänder umgebunden und ihnen verboten, die Haare abzuschneiden. Der Weiße Ring, der sich um Verbrechensopfer kümmert, und die Staatsanwaltschaft halten die Verdachtsmomente für stichhaltig.

Geschildert wird, wie Männer von auswärts, aber auch Erzieher aus den Abteilungen für Jungen, auf bis zu 20 Mädchen in einem Raum losgelassen worden seien. "Da ist jede drangekommen." Der Verdacht, dass Geld geflossen sein könnte, paart sich mit beispiellosem Sadismus mancher Erzieher - so jedenfalls dokumentieren es die Aussagen der beiden Frauen. Gegen vier konkret Beschuldigte wird ermittelt, daneben sind Verfahren gegen Unbekannt anhängig.

Mit solchen Fällen befasst sich für die Stadt Wien eine Historikerkommission und eine Aufklärungsgruppe unter der Leitung von Udo Jesionek. Er saß früher einmal dem Jugendgerichtshof vor, den die schwarz-blaue Koalition abgeschafft hat. Stadtrat Christian Oxonitsch hat bereits eine lückenlose Aufklärung der Fälle angekündigt, auch wenn sie verjährt seien. Der Staat Österreich hingegen überlässt die Aufklärung sexueller Gewalt gegen Kinder in der Vergangenheit der Kommission, die für solche Übergriffe in der Kirche gegründet wurde.

Vier der fünf Parlamentsparteien - nur die Volkspartei ist dagegen - wollen nun die Bedingungen, unter denen solche Delikte verjähren, neuerlich reformieren oder die Verjährung ganz abschaffen. Seit zwei Jahren gilt, dass solche Delikte nach 20 Jahren und erst dann verjähren, wenn das Opfer älter als 28 Jahre ist. Man wollte damit nach der massenhaften Entdeckung besonders kirchlicher Missbrauchsfälle dem Rechnung tragen, dass traumatisierte Opfer meist erst nach Jahrzehnten genug Kraft haben, sich zu offenbaren.

Nun denkt man daran, die Verjährung ganz aufzuheben. Umstritten ist, ob man so ein Verjährungsgesetz rückwirkend in Kraft treten lassen könne. Gegner sehen damit das Rechtsstaatsprinzip verletzt, Befürworter glauben, die Schwere der Delikte erlaube dies wie bei Nazi-Verbrechen auch.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.1166700
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 18.10.2011
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.