Missbrauch:Das Schweigen der Mütter

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Scham, Angst und Abhängigkeit: Warum manche Frauen auch in so eklatanten Fällen wie nun in Fluterschen den Missbrauch der eigenen Kinder erdulden und verdrängen.

Constanze von Bullion, Berlin

Sie schweigen, sie wissen nichts, oder sie wollen von nichts wissen. Denn wenn sie es wüssten und reagieren müssten, wäre ihre Existenz bedroht. Mütter, deren Kinder sexuell missbraucht worden sind, mitten in der Familie und über Jahre hinweg, spielen oft eine Schlüsselrolle bei solchen Katastrophen: als Retterin oder auch als Mittäterin. In der Öffentlichkeit aber, vor Gericht und bei der Wahrheitssuche sind sie vor allem eines: so gut wie gar nicht da.

Kann eine Mutter nichts bemerken vom Missbrauch in der Familie? Erika S. schwieg vor Gericht. (Foto: dapd)

Erika S. aus Fluterschen im Westerwald ist so eine Mutter, die nicht preisgibt, was sie weiß, und nur als Statistin auftritt in einem Prozess, in dessen Mittelpunkt ihr Mann steht. Er soll die gemeinsame Tochter sexuell missbraucht, sie zur Prostitution gezwungen und mit einer Stieftochter acht Kinder gezeugt haben.

Ist es möglich, dass die Mutter das nicht bemerkte?

Wollte sie es nicht bemerken? Oder war sie gar nicht in der Lage dazu? Beobachter im Gerichtssaal und auch ihre Töchter schildern Erika S. als gebrochene, wenig gebildete Frau, die vom Ehemann brutal geschlagen und jahrelang eingeschüchtert worden sein soll. Als Frau, die zu schwach war, ihre Töchter aus einer heillosen Lage zu befreien.

Furcht vor Verlust des Versorgers

Mütter wie Erika S. verschwinden bei Missbrauchsprozessen meist schnell wieder aus dem Blickfeld. Bisweilen zu Unrecht, sagen Experten, die sich darum bemühen, solche Fälle aufzuklären oder Täterprofile zu erstellen. Psychiater, Gutachter und Therapeuten sind immer wieder mit Müttern konfrontiert, die ausdauernd schweigen - und so die weitere Aufklärung behindern. Selten schweigen sie, weil sie strafrechtliche Konsequenzen zu befürchten haben, nicht immer kämpfen sie mit Schuldgefühlen. Vor die Wahl gestellt, zu ihrem Kind zu halten oder zum Ehemann, entscheiden sich viele für den Mann - und damit für die Rettung der bestehenden Verhältnisse, auch wenn sie eigentlich unerträglich sind.

Oft fürchten solche Frauen, ihren Versorger zu verlieren, sagt Max Stiller vom Institut für Forensische Psychiatrie der Berliner Charité, ein Gutachter in Missbrauchsfällen. Stiller warnt davor, solche Mütter pauschal zu verurteilen. "Diese Versorgungshaltung ist nicht immer egozentrisch, oft sind da noch andere Geschwister, um die eine Mutter sich kümmern muss", sagt er. "Wenn es wahr ist - was dann?", fasst der Göttinger Psychoanalytiker Ulrich Sachsse die Gründe zusammen, die Mütter davon abhalten, sich der Wahrheit zu stellen. "Sobald die Mutter Missbrauch wahrnimmt, ist sie in Handlungszwang", sagt er. Doch "handelt sie nicht, dann handelt sie auch."

Die Justiz bleibt in solchen Fällen meistens außen vor. Dass eine Mutter wegen unterlassener Hilfeleistung verurteilt wird, ist höchst selten. Allerdings ist zu erkennen, dass sich die Gerichte bemühen, Mütter stärker zur Verantwortung zu ziehen. In Heidelberg steht gerade eine Frau vor dem Landgericht, die zugesehen haben soll, als ihr Mann die zwölfjährige Tochter vergewaltigte. Einmal soll sie anschließend selbst Sex mit ihm gehabt haben. In Berlin wurde eine Mutter zu einer Haftstrafe verurteilt, weil sie ihren achtjährigen Sohn vergewaltigte, ihn dabei filmte und den Vater online zusehen ließ. Er war als Fernfahrer unterwegs.

Bei Fällen, in denen eine Mutter zur sadistischen Straftäterin wird, ist die öffentliche Empörung gewiss. Das aber sind "Raritäten", sagt Heidi Kastner. Sie ist eine der bekanntesten Psychiaterinnen Österreichs und hat den Inzest-Täter Josef Fritzl begutachtet. Seine Frau will nicht bemerkt haben, dass er im Keller ihres Hauses über Jahre seine Tochter gefangen hielt, sie missbrauchte und die Kinder, die er dort zeugte, später nach oben brachte, zu seiner Ehefrau.

Zu Frau Fritzl will Heidi Kastner sich nicht äußern, das Phänomen des Wegsehens von Müttern aber ist ihr bestens bekannt. "Es ist oft keine bewusste Haltung", sagt sie. In vielen Fällen sei Stillhalten der Versuch, ein "ohnehin instabiles System" aufrecht zu erhalten. Instabil sei da vielfach nicht nur die Partnerbeziehung, sondern auch die Persönlichkeit der Frau. "Es reicht von einer völlig unempathischen bis ignoranten Mutter, der nicht weiter daran gelegen ist, die Befindlichkeiten des Kindes wahrzunehmen, bis hin zur abhängig strukturierten Persönlichkeit, die glaubt, allein nicht lebensfähig zu sein." Nicht selten traf Kastner auf Mütter, die von ihrem Partner massiv eingeschüchtert wurden. Andere wurden früher selbst missbraucht.

Sollte man nicht annehmen, dass solche Frauen besonders wachsam reagieren? Manchmal sei das so, sagt Heidi Kastner, manche Mütter liefen sofort zur Polizei. "Manchmal gibt es aber auch die Haltung: Ich hab's ja auch überstanden. Ist doch nicht so schlimm." Eine Mutter, die selbst ein Missbrauchsopfer sei und geschwiegen habe, müsste ja, so drückt sie das aus, "ihre eigenen Kompensationsmechanismen in Frage stellen", wenn sie plötzlich anfange zu reden.

Heidi Kastner gehört zu denen, die dafür plädieren, das Schweigen von Müttern in Missbrauchsfällen "öfter strafrechtlich zu thematisieren". Ein Umdenken hält sie aber auch dort für nötig, wo es um das herkömmliche Bild von der Mutter geht, die ihre Kinder um jeden Preis verteidigt. "Man will einer Mutter diese extreme Schutzfunktion zuschreiben. Deshalb ist die Empörung besonders groß, wenn sie andere Interessen hat." Hure oder Heilige, in dieser Schablone bewege sich die Vorstellung. "Eine Frau, die ein Kind kriegt, hat sich auf die Heiligenseite zu begeben." Das aber sei weit weg von der Wirklichkeit.

© SZ vom 24.02.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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