Missbrauch an der Berliner Charité:"Besonders erschütternder Vorfall"

Ein 16-jähriges Mädchen soll in der Kinderrettungsstelle der Berliner Charité von einem Pfleger missbraucht worden sein. Der Fall ist noch nicht geklärt - aber er wirft ein Licht auf das verheerende Krisen-Management der Klinikleitung.

Silke Bigalke, Berlin

Egal, was Charité-Chef Karl Max Einhäupl jetzt tut oder sagt, er macht es kaum besser. Die Vorwürfe wiegen schwer und das Krisenmanagement der Klinik ist katastrophal. Ein Pfleger soll eine 16-jährige Patientin sexuell missbraucht haben. Es soll nicht das erste Mal gewesen sein, dass er handgreiflich wurde. Die Klinik schweigt eine Woche lang. Jetzt will Einhäupl aufklären, setzt sich stundenlang vor die Kameras.

Doch es ist für vieles zu spät. Die Polizei hat aus der Zeitung von dem Fall erfahren, eine Woche zu spät. Die Klinik hat erst danach Anzeige erstattet, Tage zu spät. Der Klinikchef geht an die Öffentlichkeit, viel zu spät. Und dann verstrickt er sich auch noch in Widersprüche darüber, wie früh oder spät er selbst von den Anschuldigen wusste. Egal, wie es ausgeht, ob die Ermittlungen der Polizei den Pfleger be- oder entlasten, es wird etwas hängen bleiben. Die Klinik muss grobe Pannen eingestehen.

Der Fall an sich ist verworren: In der Nacht von Dienstag auf Mittwoch vergangener Woche, etwa um halb eins, soll es passiert sein. Der beschuldigte Pfleger, der seit 40 Jahren in der Charité arbeitet, hat Dienst in der Kinderrettungsstelle des Campus Virchow-Klinikums im Norden Berlins. Das 16-jährige Mädchen ist gerade eingeliefert worden, hat Beruhigungsmittel bekommen. Der Pfleger soll nur drei Minuten mit ihr allein gewesen sein. In dieser Zeit habe er ihr für weitere Untersuchungen die Hose ausgezogen. Dann soll er sie unsittlich berührt haben. So schildert es der stellvertretende Pflegedirektor Helmut Schiffer.

Am nächsten Morgen erzählt die 16-Jährige ihren Eltern davon, die informieren den zuständigen Arzt. Am Nachmittag ist die Nachricht zur Pflegeleitung vorgedrungen. Der Beschuldigte, der auch für die nächste Nachtschicht eingeteilt ist, bekommt ein Schreiben. Die Klinik werde "unter diesem Vorwurf seinen Dienst keinesfalls annehmen". Er ist suspendiert. Die Eltern lassen ihre Tochter daraufhin eine weitere Nacht in der Klinik. Sie wird untersucht, Verletzungen aufgrund eines Missbrauchs finden die Ärzte nicht.

Weder die Klinik, die das Mädchen am Donnerstag entlässt, noch die Eltern stellen Strafanzeige. Am Freitag hört der Ärztliche Direktor der Charité, Ulrich Frei, nach eigener Aussage zum ersten Mal von der Sache. Auch er tut zunächst nichts. Am Montag gibt es ein Gespräch mit dem Beschuldigten - ohne Ergebnis. Kollegen erzählen, dass er schon früher auffällig geworden sei. Am Dienstag informiert Frei den Vorstandsvorsitzenden Einhäupl. Am Mittwoch steht die Geschichte in der Bild-Zeitung. Die Polizei nimmt Ermittlungen auf.

Klinik will Versäumnisse mit allen Mitteln nachholen

Am Mittwochabend geht Einhäupl vor die Presse, spricht von einem "besonders erschütternden Vorfall" und davon, dass er "keinen Zweifel" daran habe, dass das Mädchen "die Wahrheit gesagt hat". Er spricht von drei weiteren Verdachtsfällen, die Jahre zurück liegen. Am nächsten Tag sitzt er wieder vor den Kameras, jetzt hört sich einiges anders an: Nicht erst am Dienstag, bereits am Freitag vergangener Woche habe er von einem Missbrauchs-Vorwurf gehört. Er habe nicht reagiert, weil er den Fall falsch eingeschätzt habe.

Berliner Charité

Wieder ein Skandal an der Charité: Die Klinik kommt aus den schlechten Schlagzeilen nicht mehr heraus.

(Foto: Paul Zinken/dpa)

Auch zu den älteren Fällen gibt es Neuigkeiten: Der jüngste ereignete sich erst 2011. Damals ist Anzeige erstattet worden. Eine Mutter rief die Polizei in die Rettungsstelle, weil sich der Pfleger ihr "distanzlos genähert hätte", erzählt Frei. Die Ermittlungen wurden wohl eingestellt, in der Personalakte des Mannes ist nichts vermerkt. Ein weiterer Vorfall 2009: Damals entschied man sich, das intern zu regeln. Psychologen seien zu dem Schluss gekommen, dass die Vorwürfe gegen den Pfleger "keine glaubwürdige Schilderung" seien. 2005 soll es noch einen dritten Vorfall gegeben haben. Wie konnten Pflege- und Klinikleitung das alles nicht bemerken?

Den Beschuldigten hat die Polizei noch nicht befragt. Auch die Aussagen des Mädchens müssen auf Glaubwürdigkeit geprüft werden. Das Mädchen und die Eltern habe man nicht mehr erreicht, sagt Einhäupl. Auch auf die Einladung des Staatsanwalts reagieren sie nicht. "Wir brauchen die Geschädigte, ohne ihre Aussage kommen wir nicht weiter", sagt der Sprecher der Berliner Staatsanwaltschaft Martin Steltner. Zeugen sind alles, worauf sich die Polizei stützen kann. "Objektive Beweise wie DNA-Spuren sind nach einer Woche schwer zu finden", sagt Steltner.

Ob der beschuldigte Pfleger an seinen Arbeitsplatz zurückkehren wird, ist höchst fraglich. Viele seiner Kollegen seien entsetzt - nicht nur über die Vorwürfe, auch über die Klinikleitung, die zu "brüsk" vorgegangen sei, sagt Frei. "Menschen, die näher am mutmaßlichen Täter sind als wir, haben uns Vorverurteilung vorgeworden", sagt Klinik-Chef Einhäupl. Er sei aber persönlich von dessen Schuld überzeugt.

Die Klinik will mit allen Mitteln nachholen, was sie versäumt hat. Sie hat Donnerstagmittag Telefonleitungen freigeschaltet, für besorgte Eltern, für Betroffene und weitere Zeugen. Bis zum Abend gingen zehn Anrufe ein, darunter ein Hinweis, der weiterer Nachforschung bedürfe, teilte die Charité mit. Sie hat eine Arbeitsgruppe gegründet, der etwa die frühere Bundesjustizministerin Brigitte Zypries, der frühere Hamburger Innensenator Udo Nagel und die Geschäftsführerin des Kinderschutzvereins "Innocence in Danger" angehören. Sie sollen klären, was falsch läuft an der Charité und Verbesserungsvorschläge machen. Berlins Wissenschaftssenatorin Sandra Scheeres (SPD) hat personelle Konsequenzen gefordert. Am Donnerstagabend traf sie Einhäupl zu einer Krisensitzung.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: