Methadon-Tod von Chantal:Hilfe, die nicht kam

  • ln der Obhut ihrer drogensüchtigen Pflegeeltern starb die elfjährige Chantal vor drei Jahren an einer Methadon-Vergiftung. Die Staatsanwaltschaft fordert nun zwei Jahre und sechs Monate Haft für den Pflegevater wegen fahrlässiger Tötung.
  • Die ebenfalls angeklagte Pflegemutter soll nach dem Willen der Anklage eine Bewährungsstrafe von einem Jahr und drei Monaten erhalten.
  • Die Verteidigung plädiert auf Freispruch. Das Urteil wird am 26. Januar erwartet.

Von Hannah Beitzer, Hamburg

Was sind gute Eltern? Die Antwort auf diese Frage fällt ziemlich unterschiedlich aus, je nachdem, wen man fragt. Genau um diese Frage geht es auch am Freitag vor dem Hamburger Landgericht. Sylvia L., 50 Jahre, und Wolfgang A., 54 Jahre, müssen sich wegen fahrlässiger Tötung und Verletzung der Fürsorgepflicht verantworten, weil vor drei Jahren ein Kind in ihrer Obhut zu Tode kam: Ihre Pflegetochter Chantal, damals elf Jahre, starb am 16. Januar 2012 an einer Überdosis der Ersatz-Droge Methadon.

Beide Pflegeeltern waren drogensüchtig, wurden seit Jahren mit Methadon substituiert und waren zum Zeitpunkt, als Chantal die Ersatz-Droge versehentlich zu sich genommen haben soll, nicht zuhause. Sylvia L. war bei ihrer ältesten Tochter. Chantal hat am Abend vor ihrem Tod noch mit ihr telefoniert, über Übelkeit geklagt, woraufhin ihr die Pflegemutter die Einnahme von Tropfen empfohlen haben soll. Wolfgang A. soll die Wohnung am Abend des 15. Januars verlassen haben, um sich mit seinem Bruder zu treffen.

"Sie ist gestorben an einer Substanz, die es in einem Haushalt mit Kindern nicht geben sollte", sagt nun Staatsanwalt Florian Kirstein in seinem Plädoyer. Er wirft den Pflegeeltern Erziehungsversagen vor. Es gebe zwar in der Gesellschaft "eine große Bandbreite von Erziehungsverhalten", das sei "gewollt und toleriert". Dennoch seien die Zustände in Chantals Pflegefamilie bedenklich gewesen.

Kein eigenes Bett, kein Schrank

Chantal habe kein eigenes Bett gehabt, sondern sich ein 1,40 Meter breites Hochbett mit ihrer jüngeren Pflegeschwester geteilt - was das Jugendamt, das das Mädchen und ihre Pflegefamilie betreute, allerdings nicht beanstandete. Einige Zeugen hatten vor Gericht von "chaotischen" Zuständen in der Wohnung gesprochen, es habe dort keine Schränke für die Kleidung der Kinder gegeben, insgesamt sei die Wohnung karg möbliert, für die sechs Bewohner zu klein gewesen. Der Herd in der Küche sei nicht angeschlossen gewesen, ein Kühlschrank habe nicht funktioniert.

Der Staatsanwalt beklagt, dass - obwohl "so viele Menschen für Chantal zuständig waren", Hinweisen auf eine Vernachlässigung nicht nachgegangen wurden - ein klarer Vorwurf an das Jugendamt. Nachbarn hätten ausgesagt, dass Chantal nachts Zeitungen habe austragen müssen, sagt Kirstein.

Staatsanwalt hält Pflegeeltern für unglaubwürdig

Hinweise auf Drogenkonsum hätten die Pflegeeltern vor dem Jugendamt erfolgreich als Mobbing abgetan. Bei beiden seien noch 2009, als Chantal bereits bei ihnen lebte, auch andere Drogen im Blut festgestellt worden. Bei Wolfgang A. sogar noch 2011.

Ihre Angaben, dass sie das Methadon sicher in einer Garage aufbewahrt hätten, bewertet Staatsanwalt Kirstein als unglaubwürdig - auch aufgrund der langen Drogenvorgeschichte und der Vorstrafen von Wolfgang A. "Das Methadon stammt von den Angeklagten, da gibt es keinen Zweifel für mich."

In der Tat hatte die Polizei erst Tage nach dem Tod überhaupt erfahren, dass die Angeklagten die Ersatz-Droge nahmen. Zeit genug, das Methadon von der Wohnung in die Garage zu bringen, wo es schließlich bei einer Durchsuchung am 25. Januar 2012 auch gefunden wurde.

Verteidigung plädiert auf Freispruch

Die Verteidigung hat eine andere Version der Geschichte. Den Anwälten von Sylvia L. und Wolfgang A. zufolge ist keinesfalls erwiesen, dass Chantal das Methadon von ihren Pflegeeltern hatte. Sie hätte es - eine Vermutung, die auf eine Aussage der jüngsten Pflegetochter der Familie zurückgeht - auch bei ihrem drogenabhängigen leiblichen Vater geklaut haben können.

Staatsanwalt Kirstein hält das für unwahrscheinlich. Die Wohnung des leiblichen Vaters sei durchsucht worden, Methadon hätten die Ermittlungsbeamten nicht gefunden. Auch nicht im Blut des Vaters oder seiner Lebensgefährtin, die zwar ebenfalls substituiert wurden, jedoch mit einer anderen Ersatz-Droge.

Dennoch ist für die Verteidigung die Schuld der Pflegeeltern nicht erwiesen. Udo Jacob, Anwalt des Pflegevaters, bezeichnet die Verhältnisse mehrmals als "normal", wenn auch mit gewissen Einschränkungen. Weder sei es schlimm, dass Chantal mit ihrer Pflegeschwester in einem Bett geschlafen hatte, noch sei der Zustand der Wohnung dauerhaft inakzeptabel gewesen.

Nur zum Todeszeitpunkt Chantals sei es dort "chaotisch" gewesen, weil ein Zimmer renoviert wurde, die Kinder hätten kurz zuvor beim Fußballspielen im Flur ein Oberlicht zerschossen und "getobt".

Chantal - "wohlerzogen" und "gut organisiert"

Chantal sei in der Schule gut zurecht gekommen, ihre Lehrerin hat sie vor Gericht als "wohlerzogen" und "sehr gut organisiert" beschrieben. Auch die zuständigen Sozialarbeiter bei der Hausaufgabenbetreuung, die die Kinder besuchten, hätten sich positiv geäußert. "Natürlich gab es mal Probleme, auch mal Streit", sagte Jacob. Doch die Kinder seien nicht verwahrlost oder vernachlässigt gewesen.

Ähnlich sieht das auch Thomas Lipinski, Anwalt von Sylvia L. Seine Mandantin sei Verbesserungsvorschlägen des Jugendamtes immer nachgekommen. "Die Angeklagte war und ist nicht vollkommen", sagt er, "doch sie hat ihre Kinder - egal ob leibliche oder nicht - gut erzogen." Chantal hätte sich selbst gewünscht, mit ihrer Pflegeschwester in einem Bett zu schlafen, auch hätte sie die Pflegeeltern von sich aus "Mama" und "Papa" genannt.

Staatsanwalt Kirstein macht jedoch insbesondere dem Pflegevater schwere Vorwürfe. Dieser habe, als er an dem Abend vor Chantals Tod nach Hause gekommen war, vom Unwohlsein des Pflegekindes erfahren, noch einen Eimer mit Erbrochenem geleert. Aber trotzdem habe er keinen Arzt gerufen, als Chantal am nächsten Morgen bewusstlos im Bett gelegen habe. Wolfgang A. sagt, er habe Chantal schlafen lassen wollen und sei deswegen gegen Mittag zur Arbeit aufgebrochen, ohne sie aufzuwecken.

Im Zweifel für die Angeklagten

Kirstein fordert zwei Jahre und sechs Monate Haft für den wegen unterschiedlichster Delikte bereits vorbestraften Wolfgang A. und ein Jahr und drei Monate auf Bewährung für Sylvia L. Spätestens am Morgen ihres Todes sei Chantal "auf Gedeih und Verderben auf Hilfe angewiesen" gewesen. Hilfe, die nicht kam.

Anwalt Lipinski betont hingegen: "Wir haben es hier mit einer besonderen Familie und besonderen Angeklagten zu tun." Die Eltern seien trotz ihrer Vorgeschichte keine typischen Drogenabhängigen. Beide Anwälte plädieren auf Freispruch: im Zweifel für die Angeklagten.

"Keiner mag ermessen und erahnen, welches Leid ich in meinem Herzen trage dadurch, dass ich dieses Kind verloren habe", wendet sich Sylvia L. ganz zum Schluss an das Gericht. "Ich habe immer geschworen, meine Kinder so zu erziehen, dass sie viel Liebe bekommen, keine Schläge", ergänzt Wolfgang A., der selbst in schwierigen Verhältnissen aufgewachsen ist.

Nach Chantals Tod musste der zuständige Bezirksamtsleiter zurücktreten, die zuständige Jugendamtsleiterin wurde abgelöst. Außerdem wurden alle Pflegeeltern in Hamburg überprüft und die Kriterien für die Aufnahme eines Pflegekindes verschärft. Wer künftig ein Pflegekind aufnehmen will, muss ein Gesundheitszeugnis mit Drogentest vorlegen. Das Urteil im Fall Chantal soll am 26. Januar fallen.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: