Menschen mit Behinderung:Stundenlohn: 1,30 Euro

Menschen mit Behinderung: Arm trotz Arbeit

In den Werkstätten der Caritas Wendelstein.

(Foto: imago/argum)

Sie schrauben, sie fräsen, sie schneiden zu: Mehr als 300 000 Menschen arbeiten in Werkstätten für Menschen mit Behinderung. Trotzdem soll es sich nicht um ein reguläres Arbeitsverhältnis handeln. Ist das fair?

Von Natascha Holstein

André Thiel aus Halle arbeitet 35 Stunden in der Woche. Es ist eine Vollzeitstelle, doch sein Lohn beträgt nur 167 Euro im Monat. Seit 2015 kämpft er für eine gerechte Bezahlung, eine, von der er auch leben kann. Bislang wies jedoch jedes Arbeitsgericht seine Klage ab. Dabei gilt seit 2015 in Deutschland für alle Berufstätigen ein gesetzlicher Mindestlohn. Für alle - außer für Menschen mit Behinderung.

"Das ist ungerecht", sagt Anne Gersdorff, die beim Berliner Verein "Sozialhelden" Projektreferentin für Jobinklusive ist: "Wenn es einen Mindestlohn für alle gibt, dann sollte er auch für alle gelten."

In Deutschland arbeiten mehr als 300 000 Menschen in Werkstätten für Menschen mit Behinderung. Sie schrauben, sie fräsen, sie schneiden zu. Dennoch handelt es sich laut Bundesamt für Arbeit und Soziales dabei nicht um ein reguläres Arbeitsverhältnis, sondern um ein "arbeitnehmerähnliches Verhältnis".

Das bedeutet, dass Menschen mit Behinderung in einer Werkstatt Arbeitsschutz genießen, ohne dass für sie die Pflichten eines Arbeitnehmerverhältnisses bestehen. Sie müssen ihre Arbeit beispielsweise nicht in einer bestimmten Zeitspanne erledigen, sie können nicht entlassen werden. Und sie bekommen keinen Mindestlohn.

Ausnahmeregelung mit Widerspruch?

Gersdorff sitzt selbst im Rollstuhl. Für sie ist diese Ausnahmeregelung ein Widerspruch in sich: "Einerseits wollen wir die Menschen mit Behinderung beschützen, sie sollen der Arbeit nur als Teilhabemöglichkeit nachgehen. Gleichzeitig erwarten wir, dass sie Arbeitnehmer oder Arbeitnehmerin sind und oft billig produzieren."

Menschen mit Behinderung erhalten von Januar an in einer Werkstatt einen Grundbetrag über 89 Euro. Hinzu kommen gegebenenfalls ein Steigerungsbetrag, der sich nach der erbrachten Leistung richtet, und ein sogenanntes leistungsunabhängiges Arbeitsförderungsgeld. Im Jahr 2016 lag das Durchschnittseinkommen von Arbeiterinnen und Arbeitern in den Werkstätten nach Angaben des Bundesarbeitsministeriums bei etwa 180 Euro. Bei einer Arbeitswoche von 35 Stunden sind das etwa 1,30 Euro pro Stunde. Viel mehr als ein Taschengeld ist das nicht.

Zum Vergleich: Der Mindestlohn beträgt derzeit 9,19 Euro die Stunde.

Gersdorff setzt sich für eine Petition ein, dass auch in Behindertenwerkstätten der Mindestlohn gilt. Initiiert hat die Petition vor einigen Wochen die Berliner SPD-Abgeordnete Iris Spranger. Spranger sagt: "Es handelt sich hier um eine ganze Gruppe Menschen, die der Gesellschaft durch ihre Arbeit auch etwas zurückgibt, und trotzdem bekommt sie dafür keinen Mindestlohn."

Ein veraltetes System

Die Politikerin führt Artikel drei des Grundgesetzes an: Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden. Genau das passiere aber. Derzeit hat die Petition etwa 2180 Unterzeichnerinnen und Unterzeichner, unter ihnen auch Aktivisten wie Raul Krauthausen oder Politiker wie Juso-Chef Kevin Kühnert.

Warum bekommen Menschen mit Behinderung, die Vollzeit arbeiten, also keinen Mindestlohn?

"Natürlich ist das Entgelt bezogen auf den Stundenlohn gering, aber es kann ja gar nicht höher sein", erklärt Dirk Gerstle, Geschäftsführer der Lebenshilfe Berlin, einem von 17 Werkstattträgern in der Hauptstadt. Neben dem Entgelt, das die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Werkstätten bekommen, erhalten sie außerdem Sozialleistungen, beispielsweise wird die Unterbringung bezahlt. Doch bei 200 Euro Lohn im Monat sind sie darauf auch angewiesen.

Inklusionsaktivistin Gersdorff sagt, dass sich viele Arbeiterinnen und Arbeiter wünschen würden, alles Geld aus einer Hand zu bekommen. Also: lieber einen Lohn, von dem sie leben können, und damit weniger oder keine Sozialleistungen - als einen Mini-Lohn, aufgebessert mit Geld vom Staat. Eine Sache des Sich-wertgeschätzt-Fühlens also. Das Werkstätten-System hält Gersdorff insgesamt für veraltet. Menschen mit Behinderung sollten dort arbeiten können, wo sie arbeiten wollen, wie jeder andere auch.

Allerdings bieten Werkstätten eine besondere Umgebung. Viele Mitarbeitende schätzen das geschützte Umfeld, Leistungsdruck steht nicht im Vordergrund. Im besten Fall folgt nach einiger Zeit die Eingliederung in den allgemeinen Arbeitsmarkt. "Das passiert aber sehr selten", sagt Lebenshilfe-Leiter Gerstle. Die Lebenshilfe Berlin integriert in diesem Jahr acht Menschen auf dem sogenannten ersten Arbeitsmarkt - von 1300 Mitarbeitenden. So viele Menschen gliedert keine andere Berliner Werkstatt ein. Dennoch sind die Zahlen verschwindend gering.

"Selbst wenn man sagt, es können oder wollen nicht alle auf den allgemeinen Arbeitsmarkt - es müssten bei Weitem mehr als das eine Prozent sein, die tatsächlich integriert werden", sagt Gersdorff. Sie wünscht sich eine gesellschaftliche Debatte über die Vorstellung, die wir von wertvoller Arbeit haben, und wie Menschen mit Behinderung darin integriert werden. Die Einführung des Mindestlohns sei im aktuellen System ein notwendiger Schritt.

Für die Werkstätten hätte die Einführung des Mindestlohns finanzielle Konsequenzen. "Wir können nur das auszahlen, was wir erwirtschaften, und das ist zu wenig, um jedem Mindestlohn zu zahlen", sagt Gerstle. Er hofft auf eine staatliche Refinanzierung. Das Verlangen nach einem Lohn, von dem jeder wirklich leben kann, versteht Gerstle und zeigt sich für eine gesellschaftliche und politische Debatte offen: "Ich hätte mir sogar gewünscht, dass man sie schon viel länger führt."

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