Medizinskandal um die Brustkrebsvorsorge:Diagnose: Lebensgefahr

Brustkrebsvorsorge

Vorsorge in Berlin (Archivbild): In Essen soll ein Radiologe jahrelang ohne Qualifikation untersucht haben

(Foto: AP)

Der Arzt sagte: "Keinerlei Auffälligkeiten." Aber Krebs hatten die Patientinnen trotzdem. Sie wurden Opfer eines Radiologen, der nach Informationen von SZ, WDR und NDR im Ruhrgebiet jahrelang fehlerhafte Untersuchungen zur Brustkrebsvorsorge durchführte. Dabei gab es frühzeitig massive Beschwerden.

Von Ralf Wiegand, Essen

Das Schreiben kam schnell, zum Glück, schon zwei Tage nach der Untersuchung. Bloß nicht warten müssen. Eine Seite ist es nur, recht förmlich gehalten, ein Serienbrief - aber die paar Zeilen sind für jede Frau über 50 eine große Erleichterung.

"Sehr geehrte Frau Blessing", schrieb dort also das Diavero Brustdiagnosezentrum Essen, "am 13. Juni 2013 wurde bei Ihnen eine Früherkennung der Brust im Rahmen des Mammografie-Screenings in unserem Brustdiagnosezentrum durchgeführt. Wir freuen uns, Ihnen mitteilen zu können, dass bei Ihrer Mammografie keinerlei Auffälligkeiten festgestellt wurden. Die Begutachtung ist durch zwei qualifizierte Ärzte erfolgt." Zum Schluss grüßte "mit besten Wünschen" freundlich: Dr. K.

Kein Jahr später, im Mai 2014, sitzt Petra Blessing in einem Lokal in Mülheim, erst am Morgen war sie wieder im Krankenhaus zu einer Untersuchung. Sie ist froh, dass sie die Chemotherapie so gut verträgt, bald steht die Operation an. Die schlimmen Sachen, von denen man immer hört, die Abgeschlagenheit, die geschwollenen Gliedmaßen, "das habe ich alles nicht, Gott sei Dank".

Aber Krebs hat sie.

Der Brustkrebs wurde kaum sechs Monate nach der angeblich unauffälligen Mammografie, einer Methode zur Früherkennung von solchem Krebs, diagnostiziert. Schon im November 2013 war Petra Blessing aufgefallen, dass etwas nicht stimmte. Kann nicht sein, habe ihre Frauenärztin gesagt, "Sie waren doch gerade erst beim Screening." Am 17. Dezember hatte sie Gewissheit über ein vier Zentimeter großes Karzinom in der linken Brust und einen vergrößerten Lymphknoten. Was sie dann aber erschütterte: Schon auf den Aufnahmen vom Juni hätten die auffälligen Stellen erkannt werden können - nach Meinung ihrer neuen Ärzte und unabhängiger Experten sogar erkannt werden müssen.

Noch fataler wird die Sache, wenn man weiß, dass jener Dr. K., ein bekannter Essener Radiologe, die Brustkrebsvorsorge für Essen, Mülheim und Oberhausen leiten durfte, obwohl er die Qualifikation dafür jahrelang nicht nachgewiesen hatte. Zwischenzeitlich war seiner Screening-Einheit sogar die Genehmigung zur Durchführung des Screenings im Rahmen des bundesweiten Mammografie-Programms entzogen worden, bei dem jährlich 2,7 Millionen Frauen routinemäßig auf Brustkrebs untersucht werden. Doch als sich Frauen beschwerten, weil sie nicht untersucht wurden, durfte K. weitermachen.

Nach Recherchen von NDR, WDR und Süddeutscher Zeitung sind in dieser für die Städte Essen, Oberhausen und Mülheim (und damit für mehr als 130 000 Frauen) zuständigen Screening-Einheit im Rahmen des bundesweiten Mammografie-Programms jedes Jahr mehr als 30 000 Frauen untersucht worden, obwohl den dafür zuständigen Kontrollorganen massive Beschwerden aus der Ärzteschaft des Ruhrgebiets vorlagen. Und obwohl die Kassenärztliche Vereinigung (KV) Nordrhein die Genehmigung zwischenzeitlich widerrufen hatte. "Es hätte in dem Fall eine Konsequenz gezogen werden müssen", sagt Professorin Dr. Ingrid Schreer, Ehrenpräsidentin der Deutschen Gesellschaft für Senologie und renommierte Radiologin in Hamburg. "Es sind Mängel festgestellt worden, und dann ist der normale Screening-Betrieb so weitergelaufen." Das sei fatal.

Am Mammografie-Programm können alle Frauen zwischen 50 und 69 Jahren teilnehmen, 54 Prozent folgen der Einladung, die ihnen alle zwei Jahre zugeht. 96 Screening-Einheiten gibt es, also radiologische Praxen, in denen Brüste geröntgt und die Bilder begutachtet werden. Fällt keinem Arzt etwas auf, bekommt die Frau einen Brief. Fällt etwas auf den Bildern auf, wird die Teilnehmerin zur Patientin - und der Befund zum Beispiel durch eine Gewebeentnahme, die Biopsie, abgeklärt.

Organisiert werden die Einheiten von der Kooperationsgemeinschaft Mammografie in Berlin. Sie ist im Auftrag der Kassenärztlichen Vereinigungen (KV) zuständig für Koordination, Qualitätssicherung und Evaluation des Programms.

Die Expertin ist entsetzt: Trotz der vielen Mängel lief der Screening-Betrieb einfach weiter

Darum, dass die Qualitätsstandards eingehalten werden, kümmern sich fünf regionale Referenzzentren in Berlin, Oldenburg, Marburg, München und Münster. Sie zertifizieren regelmäßig die Screening-Einheiten. Die sogenannten Programmverantwortlichen Ärzte (PVA) müssen ständig ihre Qualifikation nachweisen. Zum Beispiel müssen sie eine bestimmte Anzahl von Biopsien unterschiedlicher Technik belegen können, sie müssen qualifizierte "Befunder" bei sich haben, also Ärzte, die unabhängig voneinander die Röntgenbilder der Frauen begutachten. Geräte dürfen nur von denen benutzt werden, die daran geschult worden sind. Wenn eine Einheit bei der Zertifizierung durchfällt, müsste die zuständige KV die Genehmigung eigentlich entziehen. Unter Ärzten galt das Kontrollsystem bisher als engmaschig und gut. So weit die Theorie.

In der Screening-Einheit von Dr. K., dem Programmverantwortlichen Arzt für Essen, Oberhausen und Mülheim, sind die Qualitätsstandards nachweislich verletzt worden, ohne dass es Konsequenzen gehabt hätte. Zweimal hatte ihm das Referenzzentrum die Rezertifizierung, also die Auffrischung des einmal erteilten Qualitätssiegels, nur unter Auflagen erteilt, im April 2013 schließlich rückwirkend für 2010 und 2012 sogar verweigert. Die zuständige KV Nordrhein, die von verschiedenen Ärzten seit 2010 immer wieder über Mängel in der Screening-Einheit informiert worden war, entzog die Genehmigung erst im Frühjahr 2013 - um sie kurz darauf wieder zu erteilen. Das öffentliche Interesse an einer Fortsetzung des Screenings wiege schwerer als die für kurze Zeit gegebene Gefährdung von Patientinnen, entschied die KV zunächst. Frauen hatten vor verschlossenen Türen gestanden und sich beschwert.

Seit 2010 fielen Ärzten immer wieder Patientinnen auf, die schlechte Erfahrungen beim von Dr. K. verantworteten Screening oder bei der Abklärung von auffälligen Befunden gemacht haben. So wurden Frauen als gesund nach Hause geschickt, obwohl sich später herausstellte, dass der Arzt bei einer Biopsie das auffällige Gewebe gar nicht getroffen hatte. Auch ehemalige Praxiskollegen zweifelten an den Qualifikationen von Dr. K., der zum Beispiel phasenweise Biopsien nur mit Hilfe anderer Ärzte oder mit Gerätetechnikern, die er extra einbestellte, habe durchführen können. Auch die geforderte Zahl von Biopsien wies er nicht in allen Jahren nach.

Das Ergebnis der Untersuchung: starke Blutungen, Blutergüsse - und ein falscher Befund

Bei solchen Biopsien wird mit einer Nadel in die Brust gestochen, der Weg der Nadel zu dem auf den Röntgenaufnahmen markierten auffälligen Stellen wird ständig kontrolliert, per Ultraschall oder durch Röntgenbilder. Erst, wenn die Nadel den vermeintlichen Tumor erreicht hat, entnimmt der Arzt Gewebe, das sofort untersucht wird. Trifft er daneben, sollte er das auf den Kontrollbildern direkt erkennen.

Auch Irmtrud Hill aus Mülheim hat eine solche Biopsie über sich ergehen lassen müssen, nachdem beim Routine-Screening eine Auffälligkeit auf den Bildern festgestellt worden war. Dr. K. persönlich habe den Eingriff vorgenommen, der gründlich danebenging. Neben starken Blutungen erlitt die Patientin schwere Blutergüsse - vor allem aber hatte der Mediziner den auffälligen Gewebeherd deutlich verfehlt. Das habe er ihr aber nicht mitgeteilt, sagt Irmtrud Hill. Stattdessen habe sie wenig später einen Anruf von K. bekommen, sie solle noch einmal vorbeikommen - käme sie nicht, würde sie aus dem Screening-Programm fliegen. Frau Hill ließ sich dann von einem anderen Arzt untersuchen. Der stellte fest, dass zuvor Gewebe gut drei Zentimeter neben dem Tumor entnommen worden war. Der erwies sich später als gutartig.

Die Hamburger Radiologin Schreer hat sich die anonymisierten Bilder von Petra Blessing und Irmtrud Hill angesehen - mit eindeutigen Urteilen. Den auffälligen Bereich bei Frau Hill "muss man unbedingt treffen, weil er so groß ist", sagt sie. Das sei Routine. Die Bilder von Petra Blessing bezeichnet sie als "sehr eindeutig, das ist nicht schwer zu erkennen".

In jedem Falle hätte nach Ansicht Schreers die Screening-Einheit stillgelegt und die Frauen an andere Praxen in der Region verwiesen werden müssen. Durch die Fortsetzung des Screenings in der Verantwortung von Dr. K. habe "eine Gefahr für die Frauen bestanden". Der Fall erschüttere das Vertrauen in das gesamte Vorsorgeprogramm. Als Konsequenz fordert Schreer, die Koordinationsgemeinschaft Mammografie müsse nun die Daten aus allen Screening-Einheiten in Deutschland zusammentragen und belegen, "dass es sich in Essen um einen Einzelfall" handle.

Diese Transparenz legt die Kooperationsgemeinschaft bisher aber nicht an den Tag: Auf Anfrage teilte sie zwar mit, dass bisher sogar zwei Screening-Einheiten nicht rezertifiziert worden sind. Welcher der zweite problematische Standort ist und was dort geschah, wurde jedoch nicht offengelegt: Es handle sich "um einen verwaltungsinternen Vorgang", der "absolute Vertraulichkeit" genieße. Da wird der Gang zur Vorsorge zum Glücksspiel.

Petra Blessing hätte ihren Ärzte zufolge die Chemo erspart bleiben können, hätte der erste Befund gestimmt. Sie hat Dr. K., alle verantwortlichen Ärzte der Screening-Einheit sowie alle in Betracht kommenden Genehmigungsbehörden inzwischen unter anderem wegen Körperverletzung angezeigt. Dr. K., der seine Programmverantwortung erst im Herbst 2013 abgab, und die KV Nordrhein wurden mit allen Punkten konfrontiert. Sie wollten sich nicht äußern.

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