Medien:Gutshaus, schlechtes Haus

Mit der Doku-Serie "Abenteuer 1900" attackiert die ARD am umkämpften Vorabend die privaten Konkurrenten

Von Senta Krasser

Wenn das mit der Revolution bloß nicht so anstrengend wäre. "Kampf der Hierarchie", mault Sebastian auf. Doch dann verpufft sein Unmut schnell. Wochenlange Fron als Stallbursche auf einem Gutshof bei Güstrow in Mecklenburg-Vorpommern hat das Gesicht des 23-Jährigen gezeichnet.

Statt zu kämpfen, kuschelt sich Sebastian in sein schmales Bett und fügt sich in sein Schicksal, das ihn an das untere Ende der Hierarchie setzte. Die Revolution hat also mal wieder ihre eigenen Kinder gefressen.

Sebastian ist einer von 20 Abenteurern, die von Dienstag an in der Dokumentar-Serie Abenteuer 1900 - Leben im Gutshaus Vergangenheit spielen: die einen als niederes Dienstpersonal, die anderen als herrschaftliche Gutsbesitzer.

Helden sind sie alle, weil sie zehn Wochen lang für die ARD bereitwillig auf zivilisatorische Annehmlichkeiten wie Strom, WC oder Handy verzichtet haben. Sie ließen sich ins Jahr 1906 versetzen, als ein Kilo Schweinefleisch 1,45 Mark kostete, ein Küchenmädchen 3,50 Mark im Monat verdiente und die 100-Stunden-Woche gang und gäbe war.

"Es ist hart"

Karl Marx' Klassenkampf war damals noch nicht in die mecklenburg-vorpommersche Provinz vorgedrungen. Die preußische Gesindeordnung bestimmte den Tag. Und natürlich Arbeit, Arbeit, Arbeit.

"Es ist hart, Leute", sagt Stallbursche Sebastian einmal in die Tagebuchkamera, "das kann man sich nicht vorstellen." Tränen der Erschöpfung kullern ihm dabei über seine Wangen. Abenteuer 1900 ist eben auch eine Selbsterfahrungsreise zu den eigenen Grenzen, die man "im Reisebüro nicht buchen kann" (ARD-Bulletin).

Am Ende der Zeitreise bilanzierten die Protagonisten überwiegend positiv und voller Demut: Luxus sei, Freizeit zu haben.

Erlebnisse ähnlicher Art hatte vor zwei Jahren auch eine deutsch-türkische Familie gesammelt. Im Schwarzwaldhaus des SWR probten die Boros drei Monate lang Autarkie anno 1902.

Sie kästen, buken, spaßten. Und vergaßen glatt die Heuernte im Regen, was im Ernstfall, also vor 100 Jahren, einer Katastrophe gleichgekommen wäre.

Die dokumentarische Heu- und Kernseifen-Soap wurde jedenfalls mit einem Grimme-Preis ausgezeichnet. Und der Talker Beckmann hatte Jahreshöchstquote, als die Boros zu ihm ins Studio kamen.

Abenteuer 1900 ist von gleicher Machart: Bildungsfernsehen par excellence. Was nicht zuletzt daran liegt, dass Konzept, Regie (Volker Heise), Kamera (Jörg Jeshel) und Produktion (Zero Film) aus dem gleichen Team kommen.

Die Erfahrung mit dem Schwarzwaldhaus hat Produzent Thomas Kufus gelehrt, dass besonders die Anfangsphase im Gutshaus eine Zerreißprobe werden sollte: "Wenn wir aber die ersten beiden Wochen wuppen, dann läuft's."

Gutshaus, schlechtes Haus

Und es lief - nachdem sich die neuen Gutshaus-Bewohner geeinigt hatten, wer "Du" sagen darf und wer beim "Sie" bleiben muss, wer durch das Hauptportal marschieren darf und wer den Dienstboteneingang nehmen muss.

Auch die Boros seien anfangs wie Fremde über ihren Hof gelaufen und hätten nicht gewusst, was zu tun sei, erinnert sich Kufus. Er war überrascht, wie flott seine Protagonisten im Gutshaus ihre Rollen verinnerlicht hatten; die meisten kannten ja schon das Schwarzwaldhaus aus dem Fernsehen.

"Das war ganz verrückt", sagt der Produzent. "In dem Moment, in dem sie in ihre Kostüme schlüpften und ins Haus einzogen, war ihnen ihre Positionierung so was von klar."

Arbeit, Arbeit, Arbeit

Wie selbstverständlich kommt das "Gnädiger Herr" über die Lippen, als folgten die Zeitreisenden einem Drehbuch. Überhaupt erinnern ausgeklügelte Kameraarbeit und fein austarierte narrative Erzählstränge an eine fiktionale Serie.

Doch Kufus betont, man habe "zutiefst dokumentarisch" gearbeitet, ohne Script. Zwei Kameras zeichneten 380 Stunden Material auf. 16 Folgen à 25 Minuten, bringt die ARD nun in ihrem Vorabendprogramm und attackiert damit vor allem RTL-aktuell und das Sat-1-Boulevard-Magazin Blitz.

Das Schwarzwaldhaus lief noch als Vierteiler zur Hauptsendezeit. Abenteuer 1900 richtet sich explizit an die jungen Zuschauer, die sich vorher mit den Soaps Verbotene Liebe und Marienhof beschäftigen. Im Gutshaus erwartet sie ein Leben, das sie allenfalls aus den Erzählungen ihrer Urgroßeltern kennen.

Die Hauptrolle spielt das Dienstbotenpersonal, vom Küchenmädchen über den Stallburschen bis zur Mamsell. Für sie alle gibt es kein nach Oben - außer die Herrschaft hat einen Wunsch.

Die Herrschaft wird gespielt von den Webers. Im wahren Leben arbeiten Dieter und Regina Weber als Chirurgen und erziehen nebenbei sechs sommersprossige Buben.

Im Gutshaus durfte sich die achtköpfige Familie von vorne bis hinten bedienen lassen. Die Mamsell ist das Verbindungsglied zwischen denen da unten und denen da oben.

Mit der Berliner Groß-Gastronomin Sarah Wiener haben die Gutshaus-Macher einen Glücksgriff getan. Es scheint, als spiele die 42-Jährige, aus deren Kochtöpfen schon Janet Jackson und Jürgen Trittin gekostet haben, im Gutshaus die Rolle ihres Lebens.

"Das ist 'ne Nette, aber die hat Autorität", stellt Stallbursche Sebastian gleich beim Einzug fest. Und Sarah Wiener selbst sagte nach Abschluss der Dreharbeiten: "Das Gesinde hatte vor mir mehr Respekt als vor dem Hausherrn."

Ungewöhnlich viele junge Leute bewarben sich für das Abenteuer 1900 in Mecklenburg-Vorpommern, den Landstrich, über den Bismarck gesagt haben soll: "Wenn die Welt untergeht, sollte man nach Mecklenburg gehen, da passiert alles 100 Jahre später."

Das Fernsehen braucht sie, die unverbrauchten Gesichter, die in den Dschungel von Borneo (Urlaub, wo der Pfeffer wächst, Vox) verschickt werden oder in die sibirische Kälte (Sterneflüstern, ZDF).

Auf den Spuren europäischer Auswanderer wird im kommenden Frühjahr eine Schar gecasteter Abenteurer auf einem alten Segelschiff nach New York schippern (Windstärke 8, WDR). Alles billiges und williges Sendematerial. Eine Revolution der Statisten ist vorerst nicht in Sicht.

Abenteuer 1900 - Leben im Gutshaus, ARD, dienstags bis freitags, 18.50 Uhr.

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