Masern:Unterschätzter Killer

Auch wenn die Zahl der Erkrankungen rückläufig ist, gibt es keinen Grund zur Entwarnungen: Denn Masern führen inzwischen häufiger zum Tod als gedacht.

Von Werner Bartens

Zuerst die gute Nachricht: Die Zahl der Masernerkrankungen in Deutschland sinkt. Die schlechte Nachricht: Die Häufigkeit der Todesfälle durch Komplikationen nach einer Masern-Infektion ist bisher offenbar unterschätzt worden.

An Masern erkrankter Junge

Die Zahl der Masern-Infektionen geht zwar zurück, allerdings wird die Krankheit immer gefährlicher.

(Foto: Foto: AP)

Wie gefährlich die Masern werden können, zeigt der Fall eines heute sechsjährigen Jungen aus der Nähe von Bielefeld. Er war im Alter von fünf Monaten an Masern erkrankt.

Im Herbst vergangenen Jahres litt er plötzlich unter Bewegungsstörungen und konnte nicht mehr laufen. Bei ihm wurde die seltene Gehirnentzündung SSPE diagnostiziert, die stets tödlich verläuft.

Bisher seien Kinderärzte nach Zahlen des Robert-Koch-Instituts von ein bis zwei jährlichen Todesfällen durch Masern in Deutschland ausgegangen. Wenn man aber die Spätfolgen einer Masernerkrankung einbezieht, muss man wahrscheinlich mit fünf bis zehn Toten pro Jahr rechnen.

120 Todesfälle

Die neuen Angaben gehen auf Untersuchungen des Instituts für Virologie und Immunbiologie der Universität Würzburg zurück. Dort hat man seit 1988 deutschlandweit rund 120 Todesfälle durch die subakute sklerosierende Panenzephalitis (SSPE) dokumentiert.

"Diese Todesfälle muss man zu den bisher bekannten Masern-Komplikationen hinzuzählen", sagt der Würzburger Virologe Benedikt Weißbrich. "Bisher wurden sie in der Masern-Statistik nicht wahrgenommen, mit der Folge, dass man die Risiken unterschätzt hat."

Die seltene SSPE wurde bisher ausschließlich nach Masern-Erkrankungen beobachtet. Sie führt zum schrittweisen Abbau von Nervenzellen und endet mit dem Tod. "SSPE beginnt oft mit epileptischen Anfällen oder Bewegungsstörungen", sagt Florian Heinen, Leiter der Abteilung für Nerven- und Muskelerkrankungen am von Haunerschen Kinderspital der Universität München.

Unterschätzter Killer

"Später kommen Bewusstseinstrübungen und spastische Krämpfe hinzu, bis die Patienten ins Wachkoma fallen." Das Heimtückische an der Erkrankung ist, dass die Symptome spät und schleichend beginnen. "Noch nach fünf Jahren kann sich SSPE entwickeln", sagt Heinen, "und auch die anschließende Leidenszeit kann sich über Jahre hinziehen."

Masern-Impfung

Durch flächendeckende Impfungen konnten die Masern in den USA und Finnland ausgerottet werden.

(Foto: Foto: dpa)

Der Verband der Kinder- und Jugendärzte schlägt deshalb Alarm und fordert eine bessere Impfdisziplin der Bevölkerung. Noch immer ist es in vielen Kreisen verbreitet, Impfungen für überflüssig zu halten. Die "natürliche" Infektion wird mancherorts als wichtiger Entwicklungsschritt angesehen, der angeblich das Immunsystem stärken soll.

"Masern-Partys"

Manche Eltern veranstalten sogar "Masern-Partys", damit die Kinder sich bei anderen anstecken - für den Virologen Weißbrich eine "Katastrophe". Auch andere Argumente der Impfgegner verkennen die potenzielle Gefahr.

"Dass man die Krankheit als Kind selbst durchgemacht habe, können nur diejenigen sagen, die ohne Schaden davongekommen sind", sagt Reinhard Berner, Infektionsexperte und Leitender Oberarzt der Universitätskinderklinik Freiburg.

"Im Einzelfall mögen Kinder zwar davon profitieren, doch für die Allgemeinheit ist es gefährlich, weil man dadurch das Virus weiter in Umlauf hält."

Über tausend Masernausbrüche in acht Monaten

Wohin das führen kann, zeigte der Masern-Ausbruch in Coburg, der von Ende 2001 bis ins Frühjahr 2002 andauerte. Mehr als 1200 Masernfälle in acht Monaten wurden in Coburg registriert.

Für Johannes Liese, Infektiologe und Kinderarzt am von Haunerschen Kinderspital der Universität München, ist die Ursache klar, auch wenn er sich vorsichtig ausdrückt: "Dort gibt es zwei, drei alternative Kinderarztpraxen, die Eltern nicht gerade zu Impfungen ermutigt haben."

Während in den fränkischen Nachbarkreisen die Impfrate gegen Masern - wie im bundesweiten Durchschnitt - bei rund 90 Prozent lag, waren in Coburg nur 77 Prozent der Kinder geimpft.

Ausrotten durch Impfung

"Die Zahl der nicht immunen Kinder hat sich dort angesammelt" vermutet Liese. "Dann reichte ein Erkrankungsfall, um die Welle auszulösen."

Dass die Impfrate in Deutschland immer noch ungenügend ist, zeigen Vergleiche mit anderen Ländern. In den USA darf kein Kind in die Schule, das nicht geimpft ist. In Finnland impft der Schularzt. Beide Länder haben die Masern ausgerottet.

Experten sind sich einig, dass man in Deutschland eine Durchimpfung von 95 Prozent bräuchte, um die Masern zu besiegen. Dafür spricht auch, dass sich die meisten SSPE-Erkrankten im ersten Lebensjahr angesteckt haben. Die Impfung wirkt aber erst ab dem elften Monat. "Säuglinge können nur geschützt werden, wenn die gesamte Bevölkerung gegen Masern immun ist", sagt Kinderarzt Reinhard Berner.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: