"Marco W.":Eine Familie im freien Fall

"Ein Gefühl, als ob ich verschwinde": Als Marco am 11. April 2007 in Antalya verhaftet wird, bricht für den Vater eine Welt zusammen. Wie geht es der Familie vier Jahre danach? Ein Besuch bei den Eltern.

Titus Arnu

Es war dieser eine Moment im Gerichtssaal in Antalya, als Ralf Jahns begriff, dass nichts mehr so sein würde wie zuvor. "Es war, als würde ich plötzlich im Boden versinken. So ein Gefühl, als ob meine Beine immer kleiner werden und ich quasi verschwinde."

'Marco W. - 247 Tage im türkischen Gefängnis' - Film bei Sat.1

Der Deutsche Marco W. saß 247 Tage in einem türkischen Gefängnis. Über diese Zeit hat der heute 21-Jährige ein Buch geschrieben - nun wurde sein Geschichte auch verfilmt.

(Foto: dpa)

Sein Sohn Marco Weiss wurde beschuldigt, eine 13-jährige Britin in einem Hotelzimmer missbraucht zu haben. Einen Tag nach seiner Festnahme stand der Siebzehnjährige vor der Haftrichterin. Es war der 12. April 2007. Und der Vater, der zunächst an eine Verwechslung geglaubt hatte, er merkte auf einmal, dass all dies wirklich passierte. Dass es den türkischen Behörden bitter ernst war mit der Sache.

Die Mutter will Gerechtigkeit für ihren Sohn

Seit diesem Moment kämpft die ganze Familie darum, wieder Boden unter die Füße zu bekommen. Bis heute.

Beim Treffen mit den Eltern in einem Uelzener Café ist Marco nicht dabei. 21 Jahre alt ist er jetzt, gerade hat er in Hamburg eine Ausbildung zum Rettungssanitäter begonnen. Die Familie versucht nach wie vor, ihn vor der Öffentlichkeit zu beschützen - er sei psychisch immer noch labil, sagt die Mutter. Martina Weiss wirkt zunächst reserviert, sie ist vorsichtig geworden im Umgang mit den Medien. Gleichzeitig weiß sie genau, was sie will: Gerechtigkeit für ihren Sohn.

Ralf Jahns ist 51 Jahre alt, das Gesicht gezeichnet von der Krankheit. Leukämie. Er spricht leise und zögernd; man merkt, er prüft jedes Wort. Während der Haft und des anschließenden Prozesses in der Türkei habe er "eine Schere im Kopf" gehabt, sagt Jahns. Man habe ständig abwägen müssen, was man öffentlich sagen dürfe und was nicht. Marcos Vater ist einer, der lieber im Hintergrund bleibt - und vor vier Jahren so abrupt in die Öffentlichkeit gerissen wurde, dass es sich surreal anfühlte. Beängstigend.

Nun haben Ralf Jahns und seine Familie bei einem Film mitgeholfen, den Sat1 am 22. März ausstrahlen wird. Marco W. - meine 247 Tage im türkischen Gefängnis. Ein Fernsehdrama mit Veronica Ferres als Mutter, Herbert Knaup als Vater und Vladimir Burlakov als Marco, sie ähneln einander wie Zwillinge.

Wie soll das möglich sein - Abstand gewinnen und gleichzeitig alles noch einmal erinnern und mitansehen müssen?

"Der Film ist eine Art der Verarbeitung", sagt Marina Weiss. Für Marco sei es wie eine Therapie gewesen, bei der Arbeit mit dem Drehbuchautor und am Set Fragen zu seiner Haft zu beantworten, dem Marco-Darsteller Tipps zu geben. Es war, als begegne er sich selbst.

Die Erinnerung bleibt der Familie eingebrannt

Produzent Michael Souvignier, der nach Filmen wie Contergan oder Das Wunder von Lengede Erfahrung darin hat, wahre Leidensgeschichten in fiktionale Unterhaltung umzusetzen, hatte sich früh um die Filmrechte bemüht; Drehbuchautor Johannes Betz arbeitete intensiv mit der Familie zusammen. "Sie haben kaum etwas am Script geändert", sagt Souvignier: "Und wenn, dann ging um es um Fakten und Details, die ihnen nicht realistisch erschienen."

Die Erinnerung, sie wird Familie Weiss eingebrannt bleiben für immer. Im April 2007 machten sie Osterurlaub an der türkischen Riviera. "Wir waren völlig relaxed", sagt die Mutter, "und aus dieser Stimmung heraus haben wir erst gar nicht kapiert, dass etwas ganz Übles passierte."

Marco spricht bis heute von einvernehmlichen Zärtlichkeiten

Sex mit einer Minderjährigen, dafür drohten acht bis 15 Jahre Haft. Beweise für das Vergehen gab es nicht, im Gegenteil. Ein Arzt stellte fest, dass die 13-jährige Charlotte noch Jungfrau war. Marco spricht bis heute von einvernehmlichen Zärtlichkeiten. 247 Tage saß er im Untersuchungsgefängnis, bis kurz vor Weihnachten 2008.

Das Gefängnis war für 500 Insassen gebaut worden. 1500 Häftlinge waren es tatsächlich.

Die Gefängnisszenen sind im Studio gedreht worden. Man sieht Gewalttätigkeiten in überfüllten, schmutzigen Zellen, einiges davon wirkt arg reißerisch - während Marco versucht, zu schlafen, spritzen sich die Männer neben ihm Heroin. Aber in Wirklichkeit, sagt Martina Weiss jetzt sehr energisch, sei alles noch schlimmer gewesen. "Marco hatte dort viel drastischere Erlebnisse."

Mehl als 30 Mal sind Martina Weiss und Ralf Jahns nach Antalya geflogen. Ohne Spenden wäre das nicht möglich gewesen. Marcos Bruder Sascha hatte im Internet eine Unterstützer-Seite gegründet, organisierte Mahnwachen und Unterschriftenlisten. "Wir haben Geduld gelernt in der Zeit", sagt Ralf Jahns.

Aber trotz des Zuspruchs und der immer wieder aufkeimenden Hoffnung gab es Momente, in denen sie einfach nicht mehr konnten. Vor einem Gerichtstermin brach die Mutter zusammen. Der an Leukämie erkrankte Vater war körperlich und psychisch am Ende seiner Kräfte. Am schlechtesten ging es Marco in der Zelle. "Unser Sohn war stark suizidgefährdet", sagt Ralf Jahns.

Der "Fall Marco W." wurde in den Boulevardmedien nahezu täglich behandelt, es kam zu politischen Verwerfungen zwischen Deutschland und der Türkei. Die Familie kam mit dem Druck nicht gut klar. Sie wurde teilweise falsch beraten und gab manches ungeschickt platzierte Exklusiv-Interview.

Wie geht es Marco heute?

Als Marco Weiss im November 2008 sein Buch Meine 247 Tage im türkischen Knast veröffentlichte, war das Interesse des Publikums groß; kritische Stimmen sprachen davon, dass hier einer sein Schicksal finanziell ausschlachte. Marcos deutsche Anwälte legten nach der Ankündigung der Buchveröffentlichung ihr Mandat nieder. Das Buch, so hat es Marco dargestellt, habe ihm dabei geholfen, gegen die Traumatisierung anzukämpfen.

Wie geht es ihm heute?

"Inzwischen hat Marco einen Strich gezogen"

"Einmal geriet er in eine Polizeikontrolle", erzählt der Vater: "Er hatte nichts getrunken. Aber seine Hände fingen sofort an zu zittern." Allein der Anblick der personifizierten Staatsmacht hatte genügt, ihn aus der Bahn zu werfen. Die Ausbildung zum KFZ-Mechaniker brach er ab, immer wieder musste er in therapeutische Behandlung.

"Inzwischen hat Marco einen Strich gezogen", sagt Martina Weiss: "Er hat neulich gesagt, er habe keine Gefühle mehr in der Angelegenheit."

Ralf Jahns ist Jurist, Martina Weiss arbeitet als Bewährungshelferin. Nach ihrem Rechtsverständnis ist der Fall noch nicht abgeschlossen. Das türkische Gericht hat Marco Weiss im September 2009 zwar vom Vorwurf der Vergewaltigung freigesprochen, aber wegen sexuellen Missbrauchs zu zwei Jahren und zwei Monaten Haft verurteilt, die zur Bewährung ausgesetzt wurden. Marcos Anwälte legten nach der Urteilsverkündung Revision ein. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig, der juristische Kampf geht weiter.

Der Vater sagt, emotional habe er abgeschlossen mit der Sache: "Das ist schicksalhaft über uns gekommen."

Im zweiten schweren Kampf seines Lebens, den gegen die Leukämie, hat Ralf Jahns mittlerweile einen Teilsieg errungen. Es ist die bittere Ironie in dieser Geschichte, dass der Vater von Marco Weiss heute möglicherweise nicht mehr am Leben wäre, wenn es den "Fall Marco W." nicht gegeben hätte: Durch die Präsenz seines Sohnes in den Medien konnte er den dringend benötigten Stammzellenspender finden. Die Transplantation verlief erfolgversprechend.

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