Prozess in Marburg:Vergiftete Frühchen

Zu früh auf der Welt

Im Blut von drei Frühchen fanden sich Spuren von Narkosemitteln.

(Foto: Britta Pedersen/dpa)
  • Seit Ende Januar muss sich die Kinderkrankenschwester Elena W. vor dem Marburger Landgericht wegen versuchten Mordes und Körperverletzung an zwei Säuglingen verantworten.
  • Außerdem ist sie im Falle eines dritten Babys wegen der Misshandlung von Schutzbefohlenen angeklagt. Sie soll allen Narkosemittel verabreicht haben.
  • Der Indizienprozess ist schwierig: Gegen die Angeklagte sprechen Dienstpläne und eine Google-Suche auf ihrem Handy.

Von Regina Steffens, Marburg

Leni O. kommt im Mai 2015 nach nur 24 Schwangerschaftswochen zur Welt. Sie wiegt 440 Gramm. Sie sei ein besonderes Kind gewesen, an der Grenze zum Überleben, beschreibt der Chefarzt der Frühchen-Intensivstation am Marburger Uniklinikum das Kind. Trotz der schlechten Ausgangslage und obwohl es unter einer chronischen Lungenkrankheit leidet, entwickelt sich das Mädchen gut, wiegt zuletzt 2900 Gramm. Anfang Dezember ist Leni fast so weit, nach Hause entlassen zu werden, Weihnachten soll sie außerhalb der Klinik verbringen.

Am 5. Dezember 2015 verschlechtert sich der Zustand des Kindes schlagartig, es kommt zu einem Abfall der Herzfrequenz. Leni wird reanimiert. Das Verhalten ihres Körpers war so außergewöhnlich, dass sich die Ärzte heute noch erinnern. In dieser Zeit findet Lenis Mutter eine Postkarte am Bett des Kindes, wie sie erzählt. Abschiedsworte, verfasst von der Kinderkrankenschwester Elena W. aus der Perspektive von Leni.

Das Mädchen stirbt am 9. Dezember in den Armen seiner Mutter. Todesursache: Lungenhochdruck und Rechtsherzbelastung. Die Eltern entscheiden sich gegen eine Obduktion, wissen nicht, dass ihr Kind zwei Monate später exhumiert werden wird. Elena W. bringt der toten Leni drei kleine Holzherzen mit. Die Kinderkrankenschwester ist als einzige aus dem Kreis des Pflegepersonals bei der Aussegnung des Kindes dabei. Sie tröstet die Eltern, wird ihnen auch auf der Beerdigung beistehen. Nahezu freundschaftlich sei das Verhältnis zu der Krankenschwester gewesen, erinnern sich die Eltern. Heute, drei Jahre später, sagt Lenis Mutter, Elena W.s Reaktion auf den Tod habe einstudiert auf sie gewirkt. "Das alles ist einfach eine Katastrophe."

Schwieriger Prozess

Eine Katastrophe, der nun ein sehr schwieriger Indizienprozess folgt. Seit Ende Januar muss sich Elena W. vor dem Marburger Landgericht wegen versuchten Mordes an den Säuglingen Leni O. und einem zweiten Mädchen, Mia M., verantworten. Außerdem ist sie wegen Körperverletzung, sowie im Fall des dritten Frühchens, Johanna S., wegen der Misshandlung von Schutzbefohlenen angeklagt. Zwischen Dezember 2015 und Februar 2016 soll sie den drei Mädchen auf der neonatologischen Intensivstation der Uniklinik Marburg den weder verschriebenen noch medizinisch indizierten Betäubungswirkstoff Midazolam verabreicht haben, Johanna S. zusätzlich das Narkosemittel Ketanest. Die Staatsanwaltschaft wirft Elena W. vor, den "Tod der Frühgeborenen billigend in Kauf genommen" zu haben.

Die Angeklagte schweigt auf Anraten ihrer Anwälte. Sie ist heute 29 Jahre alt, etwa im gleichen Alter wie die drei Elternpaare, die in dem Prozess als Nebenkläger auftreten. Elena W. trägt ihr blondes Haar offen, dazu Perlenohrringe, Hose und Pullover in dezenten Farben. Während der Verhandlung macht sie sich oft Notizen, runzelt die Stirn, schüttelt den Kopf, sucht den Blick zu ihrer Familie im Publikum. Sie versucht, Emotionen zurückzuhalten. Seine Mandantin könne nie wieder als Kinderkrankenschwester arbeiten, sagt Verteidiger Dietmar Kleiner, das gehe ihr nahe.

70 Zeugen sind geladen

Es ist der bisher umfangreichste Prozess am Marburger Landgericht. An diesem Mittwoch wird er fortgesetzt, 76 Verhandlungstage sind insgesamt angesetzt. In dieser Zeit wollen die Richter mehr als 70 geladene Zeugen anhören: Personal des Uniklinikums, Polizisten, Sachverständige.

Mia und Johanna überlebten die mutmaßlichen Vergiftungen. Leni starb an den Folgen des Lungenhochdrucks - nicht durch Midazolam, welches ein Toxikologe auf einer Trockenblutkarte von Leni fand. So ist der Stand bisher. Lenis Eltern glauben, dass der Wirkstoff den Tod begünstigte. Die Verhandlungstage lassen die Eheleute O. über sich ergehen, wirken in sich gekehrt aber kämpferisch. Mit ihren Anwältinnen plädieren sie auf Mord.

Förderte das Midazolam den Tod des Kindes? Das ist nur eine der vielen Fragen, die Richter Frank Oehm zu klären versucht. Weitere Fragen sind offen: Wie konnte das Gift in die Kinder gelangen? Wie kam das Narkose-Medikament Ketanest auf die Station, wo die Ärzte es bei Frühchen gar nicht einsetzen? Hatten Fremde Zugang zur Frühchen-Intensivstation? Kommt Elena W. wirklich als einzige Täterin in Frage?

Gegen die Angeklagte sprechen die Dienstpläne der neonatologischen Station. Ging es den drei Mädchen schlagartig schlechter, war sie zum Nachtdienst eingeteilt. Hinzu kommt eine Haarprobe von Elena W., in der man im Ermittlungsverfahren Spuren der Wirkstoffe Ketamin und Midazolam fand. Auf ihrem Mobiltelefon wies man zudem eine Google-Suche zu Ketanest nach. Unklar bleibt, ob Elena W. während ihrer Ausbildung zur Kinderkrankenschwester die Narkosemittel selbst zu sich genommen hat. Den Verdacht hatte eine frühere Mitschülerin der Polizei zu Protokoll gegeben. W. habe Prüfungsangst und schwache Nerven gehabt.

Marburg ist entsetzt

In Marburg ist der Fall eine große Sache. "So eine Geschichte haben wir hier noch nicht gehabt", sagt eine Zuschauerin. Die Marburger sind entsetzt, rätseln über ein Motiv und wollen wissen, was auf der Frühchen-Intensivstation auf den Marburger Lahnbergen wirklich passiert ist.

Doch so schnell wird es darüber keine Klarheit geben. Detailfragen könnten am Ende den Ausschlag geben. Und so werden im Schwurgerichtssaal Sitzung für Sitzung Dienstpläne, Bestelllisten, Patientenakten geprüft oder der Grundriss der Intensivstation 7 erklärt. An einem Verhandlungstag führt der Chefarzt Rolf Maier durch 113 PDF-Seiten voller Fotos: Richter Frank Oehm rekonstruiert akribisch die Zugänge zur Station und zum Giftschrank.

Ihre Vorgesetzten beschreiben Elena W. als engagierte Krankenschwester, freundlich und korrekt. Dennoch sind sie es, die sie der Vergiftung verdächtigen. Als das Frühchen Johanna S. Anfang Februar 2016 plötzlich wie narkotisiert wirkt, können sich die Ärzte den Zustand nicht erklären. Elena W. hilft, die 28 Tage alte Johanna wiederzubeleben, viermal in einer Nacht. Einige Tage später sei das Kind wie von Geisterhand wieder aufgewacht, erinnert sich der damalige Oberarzt Michael Zemlin vor Gericht. Ein Drogen-Screening im Labor weist Midazolam im Urin des Kindes nach. Die Ärzte glauben erst an eine Verwechslung oder eine Kreuzreaktion. Die Idee einer willentlichen Vergiftung kommt ihnen erst später. Eine zweite Untersuchung der Proben findet auch Ketamin bei Johanna S.

Oberarzt entdeckte Parallelen

Am Abend nach dem Ergebnis dieser zweiten Untersuchung sitzt der Oberarzt zu Hause am Schreibtisch, arbeitet an einem Vortrag für eine Konferenz zur Rechtsherzbelastung, an der Leni O. erkrankt war. Es sei ihm "wie ein Geistesblitz" klar geworden: Johanna und Leni wiesen die gleichen Bewegungsmuster auf, hatten die gleichen Krämpfe.

In einem Telefonat mit dem Chefarzt Maier fällt zum ersten Mal der Name der Angeklagten. Sie sei die Krankenschwester gewesen, die im Dienst war, wenn es den Kindern schlechter ging. Am nächsten Morgen gehen die Ärzte und die Pflegedienstleiterin die Akten der Kinder durch und schalten die Polizei ein. Abends wird Elena W. festgenommen. Fünf Monate später wird sie aus der Untersuchungshaft entlassen, bis Frühjahr 2020 steht sie vor Gericht.

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