Streetart:Ausgerechnet Mannheim

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Baden-Württembergs drittgrößte Stadt gilt als hässlich und profillos. Für Graffiti-Künstler aber spielt sie in der ersten Liga, was vor allem daran liegt, dass sie das zu bieten hat, was anderen Touristenzielen fehlt: Street Credibility.

Von Claudia Henzler, Mannheim

Luigi Toscano ist schon einigen Staats- und Regierungschefs begegnet. Als Fotograf und Filmemacher hat der 48-Jährige für sein Projekt " Gegen das Vergessen" Überlebende auf der ganzen Welt porträtiert. Immer wieder wird er eingeladen, seine Arbeit an bedeutenden Orten wie dem Hauptquartier der Vereinten Nationen in New York zu präsentieren. Und es bleibt nicht aus, dass er bei solchen Gelegenheiten gefragt wird, wo er, der Fotograf, denn eigentlich herkomme.

Er rechnet dann schon damit, dass sein Gegenüber einigermaßen ratlos aussehen wird, wenn er antwortet: "Aus Mannheim."

Mit 300 000 Einwohnern ist Mannheim Baden-Württembergs drittgrößte Stadt. Doch ihr Schicksal lautet: zu klein, um anziehend auf Großstadt-Aficionados zu wirken - und nicht lieblich genug, um touristisch mit der romantischen Nachbarin Heidelberg mitzuhalten.

Das Stadtbild wird von Bausünden der Nachkriegszeit geprägt. Die Industrie- und Arbeiterstadt war im Zweiten Weltkrieg schwer beschädigt und ohne ästhetische Skrupel wieder aufgebaut worden. "Wir wissen alle, dass Mannheim keine Schönheit ist", sagt Luigi Toscano. Und dann fügt er hinzu: "Aber Mannheim ist eine tolle Stadt, eine lebendige Stadt."

Er muss das nicht lange erklären, denn man trifft ihn vor einer vierzehn Meter hohen Hauswand, auf der gerade einer der renommiertesten Graffiti-Künstler Deutschlands zugange ist: Falk Lehmann, 42, bekannt unter dem Pseudonym Akut, steht auf der Hebebühne eines Krans und trägt mit schwarzer Sprühfarbe die Umrisse eines riesigen Gesichts auf. Allein die Augen sind gut einen halben Meter breit.

Lehmann ist Teil des Künstlerduos Herakut, das international hoch angesehen ist. Dem Laien wird das immer gerne damit verdeutlicht, dass die beiden schon von dem amerikanischen Schauspieler Jim Carrey beauftragt wurden, sein Haus anzumalen.

Akut also ist für eine Woche aus Berlin nach Mannheim gekommen, um das neueste Werk für ein Projekt zu schaffen, das in der Streetart-Szene weit über Deutschland hinaus Beachtung findet: Mannheim ist dabei, sich in eine Open-Air-Galerie für hochwertige Fassadenkunst zu verwandeln. Jedes Jahr kommen neue Wandgemälde hinzu, sogenannte Murals, Falk Lehmanns wird die Nummer 27 sein.

Berlin, Los Angeles, New York und Mannheim

Für die Initiatoren geht es nicht allein darum, Farbe in Mannheims graue Wohngegenden zu bringen. Es geht um Kunst im öffentlichen Raum, zugänglich für jeden - und das auf einem Niveau von Großstädten wie Berlin, Los Angeles oder New York. Mannheim spielt nicht in der Regionalliga. Künstler aus Russland, Spanien und Polen haben sich schon für das Projekt verpflichten lassen, das unter dem etwas sperrigen Titel "Stadt.Wand.Kunst" läuft und für eine Stadt in dieser Größe einzigartig ist.

Hinter "Stadt.Wand.Kunst" steckt das engagierte Team der Alten Feuerwache, einem städtischen Kulturzentrum, das in seinen denkmalgeschützten Räumen Konzerte und Lesungen veranstaltet - und das vor sieben Jahren eher zufällig zur Fassadenkunst kam. So sagt es der Leiter Sören Gerhold. Im Grunde habe Herakut, also unter anderem der Mann, der mit seinen Spraydosen dort oben auf der Arbeitsplattform steht, den Anstoß gegeben. Mehr als sieben Jahre ist das her.

Damals hat das Künstlerduo für sein "Giant Storybook Project" auf der ganzen Welt nach Häuserwänden gesucht, auf denen dann einzelne Seiten eines Buchs entstehen sollten.

Die Alte Feuerwache fand in der Mannheimer Wohnungsbaugesellschaft GBG einen Partner, der sofort bereit war, nicht nur kostenfrei eine Wand zur Verfügung zu stellen, sondern auch noch die Kosten für den Kran zu übernehmen. So entstand 2013 an der Stirnseite einer der innerstädtischen Wohnkasernen eine fantastische Mädchengestalt, sechs Stockwerke hoch.

"Dann war es um Mannheim geschehen"

"Meine Superheldenkraft ist das Verzeihen" hat Falk Lehmanns Kollegin Jasmin Siddiqui alias Hera daneben geschrieben. Viele Mannheimer waren von dem Werk begeistert, sagt Sören Gerhold. "Die Resonanz war enorm."

Deshalb hat die Alte Feuerwache schon im nächsten Jahr den Moskauer Graffiti-Künstler Dmitri Aske eingeladen. Der brachte einen Häuserblock entfernt seine Interpretation von Rodins "Denker" an die Wand. "Ab dann war es um Mannheim geschehen." Diese Kunstform passt aus seiner Sicht auch viel besser hierher als ins schicke München: "Mannheim hat die nötige Street Credibility."

Die GBG-Siedlung in der Innenstadt ist die Keimzelle des Projekts und deren Zentrum: Hier liegen die Murals besonders dicht beieinander. Längst hat sich die Kunst aber auf Wände im ganzen Stadtgebiet ausgebreitet - auch in den ärmeren Vierteln hat sie Einzug gehalten.

Mit diesem Gemälde des Künstlerduos Herakut hat 2013 alles angefangen. (Foto: Alexander Krziwanie/STADT.WAND.KUNST)

An der wichtigsten Zufahrt zur Neckarstadt West, in der viele Zuwanderer leben und wo die Altbauten nicht luxussaniert wurden, leuchteten abstrakte grafische Muster in knalligen Farben wie zur Begrüßung. Im Stadtteil Vogelstang hat der Künstler Hendrik Beikirch ein schwarz-weißes Frauenporträt, das zu seiner "Sibirien"-Serie gehört, auf ein Hochhaus mit 15 Stockwerken vergrößert.

Streetart steht oft unter dem Verdacht, oberflächlicher Pop zu sein und nur auf Ästhetik zu gehen. Doch bei vielen Bildern in Mannheim geht es um mehr. Das neueste Werk ist zum Beispiel das erste, bei dem der ausführende Künstler nicht allein darüber entschieden hat, was das Motiv sein wird. Sören Gerhold hat Falk Lehmann gefragt, ob er das fotografische Erinnerungsprojekt von Luigi Toscano, das ja auch immer ein Projekt im öffentlichen Raum war, in ein Streetart-Werk übersetzen würde.

Der wählte dann aus den mehr als 400 Porträts zwei aus und sprühte sie mit je einem Zitat der beiden Holocaust-Überlebenden ans Haus - nicht als große Kopien, sondern als eigenständige Interpretation: An den unteren Rand hat Lehmann Zuschauer gesetzt und Polizisten, die darauf hinweisen, dass dieses Gedenkprojekt immer wieder angegriffen wurde. Außerdem hat er die Gesichter auf einen farbigen Hintergrund gesetzt. Die Interpretation habe auf der Hand gelegen sagt er: "Um das verblassende Thema wieder bunt darzustellen."

Für Luigi Toscano ist das eine mutige, aber auch zeitgemäße Art der Erinnerungskultur - eine, die so wohl nur in Mannheim denkbar ist.

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