Manhattan:Ohne Schutz

Tod in Manhattan: Ein Mann hat in der Nacht auf Samstag in dem New Yorker Stadtteil vier Obdachlose mit einer Metallstange erschlagen. Ein fünfter überlebte den Angriff schwer verletzt.

Tod in Manhattan: Ein Mann hat in der Nacht auf Samstag in dem New Yorker Stadtteil vier Obdachlose mit einer Metallstange erschlagen. Ein fünfter überlebte den Angriff schwer verletzt.

(Foto: Jeenah Moon/AP)

Während New York immer reicher wird, steigt die Zahl der Obdachlosen. Am Wochenende kam es zu einer Eskalation, deren Auslöser bislang völlig unklar ist: Ein Obdachloser erschlug vier andere.

Von Christian Zaschke, New York

Auf der Sicherheitskamera der Apotheke Forever Health Pharmacy ist zu sehen, wie Randy Rodriguez Santos sich um 1.38 Uhr am frühen Samstagmorgen in der New Yorker Chinatown an zwei Männer heranschleicht, die auf dem Bürgersteig auf einem Stück Pappe schlafen. Santos ist mit einem etwa einen Meter langen Eisenrohr bewaffnet. Als er die Männer erreicht, beginnt er, auf sie einzuschlagen. Fünf Mal drischt er mit dem Rohr auf die Köpfe der Obdachlosen, dann rennt er weg, um kurz danach wiederzukommen und den Angriff fortzusetzen. Einer der Männer stirbt. Der andere überlebt schwer verletzt. Er liegt im Krankenhaus, sein Zustand ist kritisch. Es war bereits der zweite Angriff, den Santos in dieser Nacht verübte. Wenig zuvor hatte er drei weitere Obdachlose attackiert und mit dem Rohr zu Tode geschlagen.

New York mag einen Ruf als raue Stadt haben, tatsächlich aber zählt die Metropole mit ihren 8,5 Millionen Einwohnern zu den sichersten Großstädten der USA. Derzeit werden weniger als 300 Morde pro Jahr in der Stadt verübt, das ist die niedrigste Zahl seit den 1940er-Jahren. Die Gegend um Chinatown gilt als ungefährlich, obwohl viele Obdachlose dort leben - oder anders gesagt: Viele Obdachlose leben dort, weil die Gegend als ungefährlich gilt. Es gibt dort ein reges Nachtleben, manche Geschäfte haben 24 Stunden geöffnet. Dass hier eine Attacke wie die vom Samstag passieren könnte, galt als unvorstellbar.

Nachdem ein Notruf bei der Polizei eingegangen war, schwärmten die Beamten aus, auf der Suche nach dem Killer. Sie hatten nicht viele Hinweise, sie suchten einen jungen Mann, der in Schwarz gekleidet war. Die Suche gestaltete sich dann allerdings unkompliziert. An der Kreuzung von Mulberry Street und Canal Street sahen die Beamten einen Mann, der ein blutiges Eisenrohr über der Schulter trug. Er ließ sich widerstandslos festnehmen.

Auf die drängendste Frage gibt es bisher keine Antwort: Warum? Wieder und wieder fragten die Polizisten Santos, was ihn zu dieser schrecklichen Tat bewogen habe. Er antwortete nicht. Schließlich verlangte er nach einem Anwalt. Noch am Samstag wurde er des vierfachen Mordes und des einfachen versuchten Mordes angeklagt. Es ist nicht davon auszugehen, dass er jemals wieder auf freien Fuß gesetzt wird.

Michael Baldassano, Chef der Manhattan South Detectives, sagte, soweit die Polizei das überblicken könne, sei niemand wegen seiner Hautfarbe oder seines Alters attackiert worden. Die Tat sei wohl aus Willkür erfolgt, meinte Baldassano. Der 24 Jahre alte Santos war selber obdachlos. Bis vor drei Jahren lebte er in der Bronx im Norden New Yorks in der Wohnung seiner Familie. Der New York Post zufolge ist er dort jedoch rausgeflogen, weil er drogenabhängig gewesen sei und ein notorischer Dieb.

In der Gegend rund um Chinatown war er bekannt. Die Dichte an Obdachlosenheimen ist dort sehr hoch. Das bekannteste Heim ist die Bowery Mission, wo Santos öfter auf ein kostenloses Frühstück oder ein Mittagessen vorbeikam. Diego Ramos, ein Obdachloser, der ebenfalls regelmäßig in der Bowery Mission vorbeischaut, sagte der New York Times, dass er nie irgendwelche Anzeichen dafür gesehen habe, dass Santos zur Gewalt neige. "Er ist ein Typ, mit dem ich einen Kaffee trinken würde und dabei niemals auf die Idee käme, dass er mich umbringen könnte", sagte er.

Allerdings hatte Santos durchaus eine gewaltsame Geschichte. Zuletzt war er im Mai dieses Jahres festgenommen worden, weil er einen Mann in einem Obdachlosenheim in Brooklyn bedroht hatte. Er war damals wieder freigelassen worden, weil der Mann keine Anzeige erstatten wollte. Laut Polizeiangaben ist Santos in den vergangenen zwei Jahren ungefähr ein halbes Dutzend Mal wegen verschiedener Delikte festgenommen worden. Er sei bekannt dafür gewesen, dass er mit anderen Obdachlosen stritt. Die New York Post zitiert einen namentlich nicht genannten Beamten mit den Worten, dass Santos definitiv nicht zu hundert Prozent richtig im Kopf sei.

Giselle Routhier von der Organisation "Coalition for the Homeless", der Koalition für die Obdachlosen, sagte, die Tat sei eine traurige Erinnerung daran, dass sehr viele Menschen in der Stadt ohne den Schutz und ohne die Privatheit einer Wohnung leben müssten. In New York gibt es mehr als 63 000 Menschen, die Nacht für Nacht in den Obdachlosenheimen Unterschlupf suchen. Mehr als 3500 Menschen leben nach Schätzungen komplett auf der Straße oder in den U-Bahn-Stationen.

Eines der zentralen Wahlversprechen von Bürgermeister Bill de Blasio war es, die Zahl der Obdachlosen drastisch zu verringern. Stattdessen ist das Gegenteil eingetreten, die Zahlen steigen kontinuierlich. Zugleich wird New York immer reicher, was dazu führt, dass die ohnehin schon enormen Mieten noch weiter steigen, was wiederum bedeutet, dass mehr Menschen in die Obdachlosigkeit rutschen. Das Büro des Bürgermeisters teilte lapidar mit, man wolle mehr Ressourcen zur Verfügung stellen, damit sich Vorfälle wie der vom Samstag nicht wiederholten.

Als die Polizei Randy Rodriguez Santos das Video zeigte, das die Sicherheitskamera aufgenommen hatte, schaute er es interessiert an. Er bestätigte, dass es sich bei dem Mann auf dem Video um ihn selbst handele. Dass er die Obdachlosen erschlagen habe, stritt er hingegen ab.

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