Einen Moment lang ist es etwas zu viel Anteilnahme. "Könnt ihr bitte ein paar Schritte vom Klavier weggehen", sagt der junge bärtige Mann mit den verweinten Augen ins Megaphon. Eine Traube von Trauernden und Reportern drängt sich vor der Offenbacher Klinik um ihn und den Flügel. Auf dem schwarzen Klavierlack steht in weißer Farbe: "Tuğçe, wir kämpfen mit dir."
Der Kampf der jungen Frau, die vor zwei Wochen vor einer McDonalds-Filiale niedergeschlagen wurde, endet in diesen Stunden oben im Krankenzimmer, in dem ihre Familie wacht. Hunderte Menschen, die ihn weiterführen wollen, füllen unten den Rasen, mit Kerzen in den Händen. Sie halten Tuğçe für eine Heldin, die einschritt, als andere weggesehen hätten.
Die Lehramtsstudentin Tuğçe A. war vor zwei Wochen nachts auf dem Parkplatz eines Fast-Food-Restaurants in Offenbach von einem 18-Jährigen niedergeschlagen worden. Beim Sturz verletzte sie sich so schwer am Kopf, dass sie nie wieder zu sich kam. Am Mittwoch erklärten Ärzte sie für hirntot. Vor der Attacke hatte sie Zeugenaussagen zufolge zwei jungen Mädchen geholfen, die auf der Toilette des Restaurants von dem mutmaßlichen Täter und seinen Freunden belästigt worden waren. Der Angreifer ist in Haft, die Polizei versucht, die Details zu rekonstruieren.
Ein Opfer, dessen Name jetzt ein Hashtag ist
Tuğçe ist ein Opfer, aber eines, dessen Name jetzt ein Hashtag ist. Bilder der fotogenen Frau verbreiten sich in sozialen Netzwerken, die Menschen hören, sehen und teilen das verwackelte Video, das ihr Klavierspiel auf der Abifeier zeigt. Das Lied heißt "River flows in you", es klingt heute auch über diesen Rasen. Aber diesmal spielt es nicht Tuğçe, sondern der eingeladene Pianist.
Familie und Bekannte haben alles organisiert: Kerzen werden verteilt, weiße Ballons säumen den Platz, an ihnen hängen Karten mit einem optimistischen Spruch, den Tuğçe einmal auf Facebook gepostet hat. An einem Kondolenzbuch stehen die Menschen Schlange, flüstern auf Deutsch und Türkisch. Auf Stellwänden kleben Wünsche an die Familie, dazwischen Dutzende Selfies von Tuğçe: allein, mit Freundinnen, ihrem Bruder - mit Grimassen und ohne.
Zivilcourage, dieses abgenutzte Wort der Pädagogen und der Sonntagsredner, hat ein Gesicht bekommen. Das von Tuğçe. Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier will dem Bundespräsidenten vorschlagen, ihr posthum das Bundesverdienstkreuz zu verleihen, nachdem auf der Plattform change.org mehr als 80 000 Menschen diese Auszeichnung fordern.
Die Menschen sind gekommen, um ihren Respekt zu bezeugen
"Auf dem Weg zur Uni, im Bus: Alle reden darüber", sagt eine junge Frau vor dem Krankenhaus. Sie ist aus Gießen gekommen und hat an derselben Universität studiert wie Tuğçe. "Alle fragen: 'Was hätte ich getan'?"
Es ist ein Abend, um Geschichten vom Mut zu erzählen. Eine andere junge Frau, sie kommt aus Tuğçes Heimatort Gelnhausen, sagt: "Mich hat das besonders berührt, weil meinem Bruder etwas ähnliches passiert ist. Drei Jungs haben einen alten Mann überfallen, er ging dazwischen." Dafür hätten sie den Mutigen verprügelt und getreten. "Er ist zum Glück stämmig gebaut, deshalb hat er überlebt, im Gegensatz zu Tuğçe. Ich bin gekommen, um ihr meinen Respekt zu bezeugen."
Als im zweiten Stock des Klinikums das Licht angeht, heben auf dem Rasen hunderte Menschen Kerzen und Rosen in die Höhe, dazu erklingen Tuğçes Lieblingslieder, zum Beispiel "My Heart Will Go On" aus Titanic. Es ist das Zimmer, in dem sie liegt, am Fenster steht die Familie und winkt den Teilnehmern der Trauerfeier. Die Mutter blickt eher stoisch, der Vater trocknet sich wieder und wieder mit einem Papiertuch die Tränen.
Seit dem Angriff auf Tuğçe hält Offenbach inne, selbst die, die sonst von Geschichten über Gewalt leben. Der derzeit bekannteste Sohn der Stadt heißt Aykut Anhan, auch er hat Tuğçes Familie sein Mitgefühl ausgedrückt. Der Rapper nennt sich Haftbefehl und wurde damit berühmt, die Straßen seiner Stadt als brutales Pflaster zu beschreiben, bevölkert von Dealern und Schlägern. Er rappt: "Du bist verlassen und allein in Offenbach am Main/Jeder hasst hier jeden, nur ich bin hier dein Freund." Um zu zeigen, dass Anhans kalter Blick auf die Stadt nur ein Teil der Wahrheit ist, dass Solidarität über die eigene Gang, die eigene Gruppe, hinausgehen muss, auch dafür sind all die Menschen vor die Klinik gekommen.
Auch der Täter ist hier ein Thema: "Viele schreiben auf Facebook von Selbstjustiz", sagt die junge Frau aus Gelnhausen. "Von Abschiebung bis 'An die Wand stellen'. Ist schon heftig. Aber das ist der Zorn." Den mutmaßlichen Täter verteidigten seine Leute dagegen offensiv auf seiner Profilseite. Eine andere Frau zischt ihren Freunden zu: "Sieben Jahre? Der soll lebenslänglich kriegen!" Die Polizei geht allerdings davon aus, dass der Täter Tuğçe nicht umbringen wollte. Ein Angehöriger bittet die Menge, sich zurückzuhalten: "Wir sind nicht hier, um zu protestieren."
In der Menge hält eine Frau ein Schild hoch. In bunten Buchstaben steht darauf: "Tuğçe Happy Birthday". Sie wäre an diesem Freitag 23 Jahre alt geworden. Am Abend geben die Eltern bekannt, dass sie die Maschinen abschalten wollen, die Tuğçe am Leben halten. Sie stirbt noch in der Nacht.