Mahnmal bei Utøya:Streit um die symbolische Wunde

Mahnmal bei Utøya: Ein massiver Riss am Festland gegenüber der Insel Utøya - wie dieses Modell könnte das Mahnmal aussehen.

Ein massiver Riss am Festland gegenüber der Insel Utøya - wie dieses Modell könnte das Mahnmal aussehen.

(Foto: AFP)

In Norwegen soll ein spektakuläres Denkmal an die Opfer des Massenmörders Breivik erinnern. Doch die Angehörigen fühlen sich übergangen - und auch Geologen sind skeptisch.

Von Silke Bigalke

Er wird das Denkmal jeden Tag sehen, von seinem Haus aus und auf dem Weg zur Arbeit. Das sei zu viel für ihn, sagt Jørn Øverby, der am Ufer des norwegischen Tyrifjord-Sees wohnt, in dem die Insel Utøya liegt. Was dort im Juli vor drei Jahren geschah, damit habe er einfach noch nicht abgeschlossen, sagt der 48-Jährige. Nun planen sie dieses Denkmal; nicht auf der Insel selbst, sondern am Festland, etwa einen Kilometer von Utøya entfernt. So ist es für Touristen besser zu erreichen. Eine 3,5 Meter breite Spalte wird dort in den Fels geschnitten, quer durch die Landzunge auf dem Grundstück neben Øverbys Haus: Eine "Wunde der Erinnerung", um der 69 jungen Menschen zu gedenken, die am 22. Juli 2011 auf Utøya starben.

Entworfen hat sie der Schwede Jonas Dahlberg. Seine Spalte reicht bis unter die Wasseroberfläche des Sees und trennt die Spitze der Halbinsel vollständig vom Festland ab. In die Spalte baut er eine Einbuchtung als Balkon für die Besucher. Von hier aus können sie die Namen der Opfer auf der Felswand jenseits des Grabens lesen, aber nicht anfassen. "Die Lücke erweckt ein Gefühl von plötzlichem Verlust kombiniert mit einem dauerhaften Fehlen und Andenken an die Gestorbenen", beschreibt die siebenköpfige Jury den Entwurf, lobte ihn als "radikal und mutig". Bis zum Jahrestag 2015 soll das Denkmal fertig sein.

Nicht alle sind mit dem Denkmal einverstanden

Der Entwurf ging um die Welt, als die Juroren ihn im Februar aus acht Vorschlägen auswählten, und überall war man begeistert. "Symbolträchtig", "höchst eindrucksvoll", "atemberaubend", schrieb die internationale Presse. Allein in Norwegen sind nicht alle glücklich mit dem Denkmal.

Angehörige von Opfern fühlen sich übergangen, weil sie nicht gefragt wurden. Geologen halten das Projekt für schwer umsetzbar. Anwohner laufen Sturm gegen den Schnitt. Sie wollen kein Monument für den Schmerz. Sie sind dankbar für jeden Tag, an dem sie vergessen können.

Øverby kann das meistens nicht. Er wohnt schon sein ganzes Leben hier, hat sein Haus selbst gebaut. Am 22. Juli 2011 rief ihn eine Bekannte aus Oslo nach der Explosion im Regierungsviertel an. Auf Utøya würde geschossen, Kinder versuchten, durchs Wasser zu fliehen, sagte sie. Ob er mit seinem Boot nachsehen könne.

Øverby kam lange vor der Polizei bei der Insel an, auf der sich die Jugend der sozialdemokratischen Arbeiderpartiet zum jährlichen Sommerlager traf. Etwa 20 Kinder habe er aus dem Wasser gezogen, während der Attentäter Anders Breivik weiter schoss, auf die Kinder, auf die Boote der anderen Helfer, auf ihn. Später, als die Polizei da war, brachte Øverby Verletzte von der Insel zu den Rettungswagen ans Festland. Er betreute Kinder mit schrecklichen Schusswunden, an jede erinnert er sich genau. Die Toten musste er liegen lassen. Meistens komme er mit den Erinnerungen klar, sagt Øverby, er gehe immerhin jeden Tag zur Arbeit. "Aber wenn es wieder hochkommt wie jetzt, habe ich Kopfschmerzen und werde furchtbar müde."

Viele Norweger bevorzugen ein Denkmal auf Utøya

Øverby ist in einer Facebook-Gruppe für Denkmalgegner, die nach zwei Wochen etwas mehr als 900 Mitglieder hat. Zu ihnen gehört auch Vanessa Svebakk, deren 14-jährige Tochter Sharidyn auf Utøya starb. Geht es nach ihrer Mutter, wird Sharidyns Name nicht auf dem Denkmal stehen. "Es ist zu früh für ein Monument", sagt Svebakk. Seit dem Tod ihrer Tochter sei sie kaum zur Ruhe gekommen, erst der lange Prozess gegen den Mörder ihres Kindes, dann der erste Jahrestag und der Report der Kommission, die herausfinden sollte, was damals alles schiefgelaufen ist.

Voriges Jahr wurde es zu viel. Svebakk, ihr Mann und ihre beiden jüngeren Töchter mussten raus aus Norwegen, sind um die Welt gereist. Als sie im Februar zurückkamen, war Utøya mit Dahlbergs Denkmal wieder in den Schlagzeilen. Svebakk findet den Entwurf schrecklich. "Ich habe Gedenkstätten auf der ganzen Welt besucht. Sich zu erinnern ist ein Prozess. In Norwegen ist es ein Stück Kunst, das uns nichts darüber erzählen wird, was passiert ist." Es werde nichts über ihre Tochter aussagen, die Justin Bieber liebte, Lila als Lieblingsfarbe hatte und Sissi als Spitznamen. Svebakk wäre es lieber, wenn Utøya zum Ort der Erinnerung würde, wenn dort nichts verändert würde. Viele Familien würden genauso denken. Doch die Jugend der Arbeiterpartei hat andere Pläne mit der Insel, renoviert die Gebäude und errichtet neue.

Angehörige fühlen sich übergangen

Wütend macht Svebakk vor allem, dass die Regierung sie nicht nach ihrer Meinung gefragt hat. Die Jury hat zwar mit der National Support Group für Angehörige und Opfer zusammengearbeitet, aber das reicht ihr nicht. "Nachdem meine Tochter getötet wurde, bekamen wir Weihnachtskarten vom früheren Premierminister. Sein Büro hat uns offenbar ohne Probleme gefunden", sagt sie.

"Wir wissen, dass manche Familien und Anwohner Sorgen wegen des Denkmals haben", sagt Jørn Mortensen von Koro, der Stelle für öffentliche Kunst in Norwegen. Sie hat die Regierung mit der Umsetzung beauftragt, Mortensen saß der Jury vor. Alle Angehörigen würden noch schriftlich über die Gedenkstätte informiert, erklärt er. Wenn einige den Namen ihres Kindes nicht auf der Felswand haben wollten, könne man stattdessen ein Symbol nehmen, einen Stern etwa, oder nur "Mädchen", "Junge" und das Alter dazu schreiben.

Die wütenden Anwohner verweist Mortensen auf das Abstimmungsverfahren der zuständigen Gemeinde Hole, die das Projekt genehmigen muss. Diese wird die Pläne öffentlich auslegen, jeder Einwohner könne dann seine Meinung loswerden. "Wir können natürlich verstehen, dass sie nicht jeden Tag erinnert werden möchten", sagt Mortensen. "Andererseits ist es unmöglich, den 22. Juli zu vergessen."

Auch Geologen haben Bedenken

Ob es technisch überhaupt möglich ist, die Schneise in den Felsen zu schlagen, ist indes fraglich. Der Geologe Hans Erik Foss Amundsen zweifelt an der Umsetzbarkeit des Projekts. "Der Stein ist sehr fragil. Man kann ihn mit der Hand abbrechen. Eine freigelegte Oberfläche wird schnell bröckeln", sagt er. Hätten die Verantwortlichen einen Experten gefragt, wäre das Ganze wohl zurückgestellt worden. "Es ist verrückt, so ein Projekt zu starten, ohne seine Hausaufgaben zu machen. Die gesamte geologische Gesellschaft Norwegens schüttelt bereits den Kopf darüber", sagt er.

Künstler Dahlberg kenne den Untergrund sehr gut, entgegnet Mortensen. Beton oder Stahlplatten könnten ihn stabilisieren. Es ist sogar die Rede davon, Felsstrukturen mit stabilerem Material nachzubauen. Bis zum 22. Juli 2015 wird es wohl auf jeden Fall knapp. Erinnern wird sich Norwegen dann trotzdem. So oder so.

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