Süddeutsche Zeitung

Mädchen in der Türkei:Blond und benachteiligt

Die 17-jährige Schülerin Merve Kulmac aus dem türkischen Izmir hat es nicht leicht - schuld daran sind ihre ungefärbten Haare.

Kai Strittmatter

Die Mädchen von Izmir. Sie haben ihre eigene Hymne. "Keine Absätze klappern so einladend wie die ihren", heißt es in dem Lied, das Sezen Aksu, die Grande Dame des türkischen Pops ihnen gewidmet hat: "Mit einem Blick machen sie die Männer dem Erdboden gleich."

Sezen Aksu ist ein Mädchen aus Izmir. Sezen Aksu ist blond. Sie sind gerne blond, die Türkinnen, vielleicht gerade deshalb, weil die meisten von ihnen schwarz auf die Welt kommen. Über dem türkischen Fernsehen liegt ein goldener Schimmer von all dem falschen Blond, das sich da allabendlich tummelt. Die Schülerin Merve Kulmac ist 17. Sie ist ein Mädchen aus Izmir. Sie ist hübsch. Sie hat ein Problem: Merve ist blond von Natur aus. "Ist das ein Verbrechen?", fragt Merve Kulmac.

Der Lehrer brüllt sie an

Als Merve geboren wurde, vor 17 Jahren, waren sie stolz, Vater Gültekin und Mutter Yasemin Kulmac: "Sie war ein so schönes Kind." Ein wenig überrascht waren sie auch. Vater und Mutter haben dunkles Haar, Merve aber war blond - wie die Großmutter. In der Grundschule riefen die anderen Kinder sie "Monika". Das klang fremd und blond und war freundlich gemeint.

Merves Probleme begannen, als sie auf das Gymnasium der Kleinstadt Cigli bei Izmir wechselte. Als plötzlich einer der Lehrer sie anbrüllte und verwarnte: Sie solle aufhören, ihr Haar zu färben. In türkischen Schulen ist das verboten: schminken und Haare färben. Der Vater, ein Immobilienmakler, lief zum Lehrer, zeigte ihm Kinderfotos seiner Tochter. Der Lehrer glaubte ihm nicht.

"Der Druck wuchs", sagte der Vater der SZ: "Sogar Schulkameradinnen bedrohten Merve, weil sie ihnen angeblich die Jungs stahl." Merve wechselte auf ein anderes Gymnasium. Mach deine Haare wieder schwarz, sagte dort ein Lehrer und untermalte seinen Befehl mit Karate-Pantomime. Der Vater ging zu dem Lehrer: "Du kannst Karate? Ich kann Kickboxen." In dem Jahr blieb Merve sitzen. Sie wechselte zum zweiten Mal die Schule, ging nun aufs Büyük-Celik-Gymnasium.

Im ersten Schuljahr fühlte sie sich wohl. Sie verpasste nur um einen Punkt die Liste der ausgezeichneten Schülerinnen. Im zweiten Schuljahr kam der Turnlehrer und sagte: "Warum färbst du deine Haare?" Andere Schülerinnen zeigten auf Merve und sagten: "Wir wollen auch unsere Haare färben." Der Vater nahm erneut die Kinderfotos und rannte zu Turnlehrer und Direktor.

"Was soll ich noch tun? Soll ich ein ärztliches Attest bringen?" Das wäre gut, sagte der Direktor. "Zu dem Zeitpunkt resignierten wir", sagte der Vater. Die Familie hatte eine Idee: Sie färbten Merves Haare. Dunkler. Brünett. Und siehe da: Ein paar Monate war Ruhe. Dann wuchsen die blonden Haare wieder nach. Drei Tage hintereinander wurde Merve vom Klassenlehrer vor die Türe geschickt: unerlaubtes Haarefärben. Am vierten wurde sie zum Direktor einbestellt. "Wo ist nun dein Attest?", soll der gefragt haben. Der Vater erhielt einen Anruf: "Merve ist zusammengebrochen."

Die Türken stammen aus Zentralasien, auf ihrem Weg Richtung Bosporus haben sie aber so ziemlich alle Völker aufgelesen, die ihnen unterwegs begegneten. Und so gibt es heute unter all den Schwarzschöpfen auch rothaarige und sommersprossige Türken, und es gibt echte Blonde. Republikgründer Atatürk, Spross einer Balkanfamilie aus Saloniki, war selber einer: viel besungen seine blauen Augen und sein blondes Haar.

Merves Vater Gültekin Kulmac ist Tscherkesse, seine Familie stammt aus dem Kaukasus, die Familie von Mutter Yasemin kommt vom Balkan. Merve Kulmac hat sich die Echtheit ihrer Haarfarbe mittlerweile bestätigen lassen, von einem Dermatologen der Ägäis-Universität. Der Vater ging erneut zum Rektor: "Das Attest hat keinen Stempel", soll der gesagt haben. "Sie haben keine Ahnung, was wir durchmachen", sagt der Vater.

Merve sagt: "Ich möchte doch nur studieren und Chirurgin werden. Wieso interessieren sich die Lehrer nur für meine Haare und nicht für meine Ausbildung?" Die Eltern gingen an die Presse. "Ihre blonden Haare verbrannten ihr den Kopf", schrieb ein Nachrichtenportal. Der Aufschrei war groß. Die Reaktion der Schule auch. Der Turnlehrer sagte im Fernsehen, die Familie habe sich das Attest gekauft.

Die regierungstreue Lehrergewerkschaft Egitim Bir Sen vermutet ein Komplott vor den Lokalwahlen: "Über die Erzieher will man die AKP-Regierung treffen." Merve Kulmac sei eine "erfolglose und aggressive" Schülerin. Vergangenen Freitag ließ der Schuldirektor die ganze Schule zum Wochenappell antreten: "Ich weiß, dass man mich denunzieren will", sagte er den versammelten Schülern, darunter Merve Kulmac. "Ich weiß auch, dass vom Gouverneur bis zu den Schülern hier alle hinter mir stehen." Die Schüler klatschten.

Merve Kulmac hat noch zwei Jahre bis zum Abitur. "Die Mädchen von Izmir", singt Sezen Aksu, "sterben, wenn es sein muss, in der Liebe oder im Kampf."

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SZ vom 17.03.2009/akh
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