Süddeutsche Zeitung

Lynchjustiz in Bremen:"Das ist für alle hier eine schreckliche Geschichte"

Ein Mann wird fast totgeprügelt, weil Zuschauer ihn in einem TV-Bericht als Kinderschänder erkannt haben wollen. Der Fall steht für ein Phänomen, das immer wieder zu blutigen Übergriffen auf unbescholtene Menschen führt.

Von Thomas Hahn, Bremen

In der Upsalastraße sind die Leute immer noch ziemlich aufgewühlt von diesem Vorfall, der sich am Dienstag in ihrer freundlichen Bremer Vorstadtidylle ereignete. Wann kommt das schon mal vor, dass ein stattliches Aufgebot an Polizeiwagen in diesem entlegenen Teil von Burglesum vorfährt? Dass ein Krankenwagen vor einem der Mietshäuser bremst und Sanitäter durchs Treppenhaus hasten? Ein Nachbar aus dem dritten Stock hatte Besuch von einer ganzen Mannschaft aus Schlägern. Sie sollen ihn fast zu Tode geprügelt haben, weil sie ihn in einem RTL-Beitrag über vermeintliche Kinderschänder erkannt haben wollten.

"Die einen sagen, sie hätten die Tür aufgebrochen, die anderen, er habe ihnen selbst aufgemacht", sagt eine Anwohnerin, die gerade mit Mutter und Tochter zum Grillen unterwegs ist. Eine Nachbarin wollte ihr den besagten RTL-Beitrag im Internet zeigen. ",Neue Masche' musst du googeln, hat sie gesagt." Aber der Beitrag war schon gelöscht. Die Frau sagt: "Das ist für alle hier eine schreckliche Geschichte."

Im Polizeibericht läuft diese Geschichte unter der Überschrift "Lynchjustiz". Der Fall steht also für ein beklemmendes Phänomen, das immer wieder zu blutigen Übergriffen auf unbescholtene Menschen führt: Einzelne Wutbürger unterwandern dabei den Rechtsstaat, weil sie nach ihren Regeln eine Gerechtigkeit durchsetzen wollen, die der Staat mit seinen Anwälten und Polizeibeamten aus ihrer Sicht nicht herstellt. Diesen Leuten ist die rechtsstaatliche Beweisaufnahme zu umständlich und langwierig. Sie sehen nicht ein, dass ein Verdacht nicht mehr ist als eine vage Deutung von Wirklichkeit, aus der man kein gerechtes Urteil ableiten kann. Gerade vermeintliche Kinderschänder werden immer wieder Opfer von Selbstjustiz, und in dem Bremer Fall scheinen ein paar besonders voreilige Gerechtigkeitsfanatiker tätig geworden sein. Denn nach Erkenntnis der Polizei fühlten sich die mutmaßlichen Schläger tatsächlich durch einen Beitrag herausgefordert, den sie im RTL-Mittagsjournal " Punkt 12" gesehen hatten.

RTL hat den Beitrag aus dem Netz genommen, er gilt als Beweismittel

Die Upsalastraße ist ein unscheinbare Sackgasse im Bremer Norden. Bunte Reihenhäuser, schmucklose Garagen und große Wohnblöcke prägen das Bild. Zwischen den Klinkerbauten liegen Wiesen mit welkem Gras. Hinter den Bäumen rauscht die Autobahn. Dem gehobenen Bürgertum wäre dieser Teil Bremens wahrscheinlich zu karg, aber die Leute, die hier wohnen, sind zufrieden. Die Mieten sind erschwinglich. Es gibt eine Bushaltestelle in der Nähe, ein Ärztehaus, ein kleines Einkaufszentrum mit Discountern und Café, und am Ende der Straße unterhält die Arbeiterwohlfahrt den Jugendclub "Ups". Der 50-jährige Mann, der überfallen wurde, fiel hier kaum auf. "Er war nur morgens unterwegs", sagt die Frau mit dem Einweggrill in der Hand. Irgendeinen Verdacht hatte sie nie gegen ihn. Warum auch? Im Polizeibericht heißt es: "Nach derzeitigen Erkenntnissen geht die Polizei Bremen nicht davon aus, dass in dem betroffenen Wohnhaus Menschen mit pädophiler Neigung wohnen."

Und RTL? Der Sender weist darauf hin, "dass das Opfer der Selbstjustiz in Bremen zu keinem Zeitpunkt Gegenstand der Berichterstattung von RTL war. Die Staatsanwaltschaft hat dem Sender offiziell bestätigt, dass die in dem 'Punkt 12'-Beitrag anonymisiert gezeigte Person nicht das Lynchjustiz-Opfer ist". Demnach hat der Prügeltrupp nicht nur den Rechtsstaat unterwandert. Er hat eine Person angegriffen, die in der RTL-Verdachtsberichterstattung gar nicht vorkam.

Der Sender hat den Beitrag im Internet vorübergehend gesperrt. Die Staatsanwaltschaft hat ihn als Beweismaterial angefordert. Wer die Sendung "Punkt 12" am Dienstagmittag nicht gesehen hat, kann deshalb nicht einschätzen, ob man aus den Bildern auf die Upsalastraße schließen kann. Der Sender erklärt, es gab "keinerlei Hinweise auf den Ort oder eine vermeintliche Adresse des mutmaßlich Pädophilen". Nicht einmal von Bremen sei die Rede gewesen, sagt ein Sprecher. In dem Beitrag gab sich ein Reporter auf Internetportalen als Kind aus, geriet dabei in anzügliche Chats und arrangierte einen Treffpunkt, an dem das RTL-Team schließlich auch eine verdächtige Person filmte. Ein Einkaufszentrum, eine Häuserfront, eine Glastür, ein Parkweg seien in dem Bericht zu sehen gewesen, sagt der Sprecher. Den wütenden Zusehern reichte das offenbar, um sich sicher zu sein, wen sie aufsuchen und verprügeln mussten.

Die Geschichte taugt als Lehrstück für die Erkenntnis, dass eine Rechtsordnung sich nicht von irgendwelchen aufgeregten Bürgern umdeuten lassen darf. Sonst wackelt das sorgfältig austarierte Justizsystem und gibt einer Willkür Raum, der Unschuldige zum Opfer fallen. Immerhin, der 50-Jährige von der Upsalastraße schwebte am Donnerstagmorgen nicht mehr in Lebensgefahr. Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft wegen eines versuchten Tötungsdeliktes laufen.

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SZ vom 15.06.2018/ick
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